Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 442

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 gegen sich selbst, die aus jenem ersten Gebot der Selbsterkenntniß unmittelbar      
  02 folgen.      
           
  03
Episodischer Abschnitt.
     
           
  04
Von der Amphibolie der moralischen Reflexionsbegriffe: das,
     
  05
was die Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist, für Pflicht
     
  06
gegen Andere zu halten.
     
           
  07
§ 16.
     
           
  08 Nach der bloßen Vernunft zu urtheilen, hat der Mensch sonst keine      
  09 Pflicht, als blos gegen den Menschen (sich selbst oder einen anderen);      
  10 denn seine Pflicht gegen irgend ein Subject ist die moralische Nöthigung      
  11 durch dieses seinen Willen. Das nöthigende (verpflichtende) Subject mu      
  12 also erstlich eine Person sein, zweitens muß diese Person als Gegenstand      
  13 der Erfahrung gegeben sein: weil der Mensch auf den Zweck ihres Willens      
  14 hinwirken soll, welches nur in dem Verhältnisse zweier existirender Wesen      
  15 zu einander geschehen kann (denn ein bloßes Gedankending kann nicht      
  16 Ursache von irgend einem Erfolg nach Zwecken werden). Nun kennen      
  17 wir aber mit aller unserer Erfahrung kein anderes Wesen, was der Verpflichtung      
  18 (der activen oder passiven) fähig wäre, als blos den Menschen.      
  19 Also kann der Mensch sonst keine Pflicht gegen irgend ein Wesen haben,      
  20 als blos gegen den Menschen, und stellt er sich gleichwohl eine solche zu      
  21 haben vor, so geschieht dieses durch eine Amphibolie der Reflexionsbegriffe,      
  22 und seine vermeinte Pflicht gegen andere Wesen ist blos Pflicht      
  23 gegen sich selbst; zu welchem Mißverstande er dadurch verleitet wird, daß      
  24 er seine Pflicht in Ansehung anderer Wesen für Pflicht gegen diese      
  25 Wesen verwechselt.      
           
  26 Diese vermeinte Pflicht kann nun auf unpersönliche, oder zwar      
  27 persönliche, aber schlechterdings unsichtbare (den äußeren Sinnen nicht      
  28 darzustellende) Gegenstände bezogen werden. - Die erstere (außermenschliche)      
  29 können der bloße Naturstoff, oder der zur Fortpflanzung      
  30 organisirte, aber empfindungslose, oder der mit Empfindung und Willkür      
  31 begabte Theil der Natur (Mineralien, Pflanzen, Thiere) sein: die zweite      
  32 (übermenschliche) können als geistige Wesen (Engel, Gott) gedacht      
  33 werden. - Ob zwischen Wesen beider Art und den Menschen ein Pflichtverhältniß      
  34 und welches dazwischen statt finde, wird nun gefragt.      
           
           
     

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