Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 454

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
Casuistische Fragen.
     
           
  02 Wie weit soll man den Aufwand seines Vermögens im Wohlthun      
  03 treiben? Doch wohl nicht bis dahin, daß man zuletzt selbst Anderer      
  04 Wohlthätigkeit bedürftig würde. Wie viel ist die Wohlthat werth, die      
  05 man mit kalter Hand (im Abscheiden aus der Welt durch ein Testament)      
  06 beweiset? - Kann derjenige, welcher eine ihm durchs Landesgesetz erlaubte      
  07 Obergewalt über einen übt, dem er die Freiheit raubt, nach seiner      
  08 eigenen Wahl glücklich zu sein (seinem Erbunterthan eines Guts), kann,      
  09 sage ich, dieser sich als Wohlthäter Ansehen, wenn er nach seinen eigenen      
  10 Begriffen von Glückseligkeit für ihn gleichsam väterlich sorgt? Oder ist      
  11 nicht vielmehr die Ungerechtigkeit, einen seiner Freiheit zu berauben,      
  12 etwas der Rechtspflicht überhaupt so Widerstreitendes, daß unter dieser      
  13 Bedingung auf die Wohlthätigkeit der Herrschaft rechnend sich hinzugeben      
  14 die größte Wegwerfung der Menschheit für den sein würde, der sich dazu      
  15 freiwillig verstände, und die größte Vorsorge der Herrschaft für den letzteren      
  16 gar keine Wohlthätigkeit sein würde? Oder kann etwa das Verdienst      
  17 mit der letzteren so groß sein, daß es gegen das Menschenrecht aufgewogen      
  18 werden könnte? - Ich kann niemand nach meinen Begriffen      
  19 von Glückseligkeit wohlthun (außer unmündigen Kindern oder Gestörten),      
  20 sondern nach jenes seinen Begriffen, dem ich eine Wohlthat zu erweisen      
  21 denke, indem ich ihm ein Geschenk aufdringe.      
           
  22 Das Vermögen wohlzuthun, was von Glücksgütern abhängt, ist      
  23 größtentheils ein Erfolg aus der Begünstigung verschiedener Menschen      
  24 durch die Ungerechtigkeit der Regierung, welche eine Ungleichheit des      
  25 Wohlstandes, die Anderer Wohlthätigkeit nothwendig macht, einführt.      
  26 Verdient unter solchen Umständen der Beistand, den der Reiche den Nothleidenden      
  27 erweisen mag, wohl überhaupt den Namen der Wohlthätigkeit,      
  28 mit welcher man sich so gern als Verdienst brüstet?      
           
  29
B.
     
  30
Von der Pflicht der Dankbarkeit.
     
           
  31 Dankbarkeit ist die Verehrung einer Person wegen einer uns      
  32 erwiesenen Wohlthat. Das Gefühl, was mit dieser Beurtheilung verbunden      
  33 ist, ist das der Achtung gegen den (ihn verpflichtenden) Wohlthäter,      
  34 da hingegen dieser gegen den Empfänger nur als im Verhältniß der      
           
     

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