Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 490

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Strafe nicht den Verbrecher, so werden es seine Nachkommen entgelten      
  02 müssen; oder geschiehts nicht bei seinem Leben, so muß es in      
  03 einem Leben nach dem Tode*) geschehen, welches ausdrücklich darum      
  04 auch angenommen und gern geglaubt wird, damit der Anspruch der      
  05 ewigen Gerechtigkeit ausgeglichen werde. - Ich will keine Blutschuld      
  06 auf mein Land kommen lassen, dadurch daß ich einen boshaft      
  07 mordenden Duellanten, für den ihr Fürbitte thut, begnadige, sagte      
  08 einmal ein wohldenkender Landesherr. - Die Sündenschuld mu      
  09 bezahlt werden, und sollte sich auch ein völlig Unschuldiger zum      
  10 Sühnopfer hingeben (wo dann freilich die von ihm übernommene      
  11 Leiden eigentlich nicht Strafe - denn er hat selbst nichts verbrochen      
  12 - heißen könnten); aus welchem allem zu ersehen ist, daß es nicht      
  13 eine die Gerechtigkeit verwaltende Person ist, der man diesen Verurtheilungsspruch      
  14 beilegt (denn die würde nicht so sprechen können,      
  15 ohne Anderen unrecht zu thun), sondern daß die bloße Gerechtigkeit,      
  16 als überschwengliches, einem übersinnlichen Subject angedachtes      
  17 Princip, das Recht dieses Wesens bestimme; welches zwar dem Formalen      
  18 dieses Princips gemäß ist, dem Materialen desselben aber,      
  19 dem Zweck, welcher immer die Glückseligkeit des Menschen ist,      
  20 widerstreitet. - Denn bei der etwanigen großen Menge der Verbrecher,      
  21 die ihr Schuldenregister immer so fortlaufen lassen, würde      
  22 die Strafgerechtigkeit den Zweck der Schöpfung nicht in der Liebe      
  23 des Welturhebers (wie man sich doch denken muß), sondern in der      
  24 strengen Befolgung des Rechts setzen (das Recht selbst zum Zweck      
  25 machen, der in der Ehre Gottes gesetzt wird), welches, da das Letztere      
  26 (die Gerechtigkeit) nur die einschränkende Bedingung des Ersteren      
  27 (der Gütigkeit) ist, den Principien der praktischen Vernunft zu      
           
    *) Die Hypothese von einem künftigen Leben darf hier nicht einmal eingemischt werden, um jene drohende Strafe als vollständig in der Vollziehung vorzustellen. Denn der Mensch, seiner Moralität nach betrachtet, wird als übersinnlicher Gegenstand vor einem übersinnlichen Richter nicht nach Zeitbedingungen beurtheilt; es ist nur von seiner Existenz die Rede. Sein Erdenleben, es sei kurz oder lang, oder gar ewig, ist nur das Dasein desselben in der Erscheinung, und der Begriff der Gerechtigkeit bedarf keiner näheren Bestimmung; wie denn auch der Glaube an ein künftiges Leben eigentlich nicht vorausgeht, um die Strafgerechtigkeit an ihm ihre Wirkung sehen zu lassen, sondern vielmehr umgekehrt aus der Nothwendigkeit der Bestrafung auf ein künftiges Leben die Folgerung gezogen wird.      
           
     

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