Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 046

   
         
 

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  01 würde. Was aber die vorgebliche Mystik der Vernunftauslegungen betrifft,    
  02 wenn die Philosophie in Schriftstellen einen moralischen Sinn aufgespäht,    
  03 ja gar ihn dem Texte aufdringt, so ist diese gerade das einzige    
  04 Mittel, die Mystik (z. B. eines Swedenborgs) abzuhalten. Denn die    
  05 Phantasie verläuft sich bei Religionsdingen unvermeidlich ins Überschwengliche,    
  06 wenn sie das Übersinnliche (was in allem, was Religion    
  07 heißt, gedacht werden muß) nicht an bestimmte Begriffe der Vernunft,    
  08 dergleichen die moralische sind, knüpft, und führt zu einem Illuminatism    
  09 innerer Offenbarungen, deren ein jeder alsdann seine eigene hat und kein    
  10 öffentlicher Probirstein der Wahrheit mehr Statt findet.    
         
  11 Es giebt aber noch Einwürfe, die die Vernunft ihr selbst gegen die    
  12 Vernunftauslegung der Bibel macht, die wir nach der Reihe oben angeführter    
  13 Auslegungsregeln kürzlich bemerken und zu heben suchen wollen.    
  14 A) Einwurf: Als Offenbarung muß die Bibel aus sich selbst und nicht    
  15 durch die Vernunft gedeutet werden; denn der Erkenntnißquell selbst liegt    
  16 anderswo als in der Vernunft. Antwort: Eben darum, weil jenes Buch    
  17 als göttliche Offenbarung angenommen wird, muß sie nicht blos nach    
  18 Grundsätzen der Geschichtslehren (mit sich selbst zusammen zu stimmen)    
  19 theoretisch, sondern nach Vernunftbegriffen praktisch ausgelegt werden;    
  20 denn daß eine Offenbarung göttlich sei, kann nie durch Kennzeichen,    
  21 welche die Erfahrung an die Hand giebt, eingesehen werden. Ihr Charakter    
  22 (wenigstens als conditio sine qua non ) ist immer die Übereinstimmung    
  23 mit dem, was die Vernunft für Gott anständig erklärt. -b) Einwurf:    
  24 Vor allem Praktischen muß doch immer eine Theorie vorhergehen,    
  25 und da diese als Offenbarungslehre vielleicht Absichten des Willens Gottes,    
  26 die wir nicht durchdringen können, für uns aber verbindend sein dürften,    
  27 sie zu befördern, enthalten könnten, so scheint das Glauben an dergleichen    
  28 theoretische Sätze für sich selbst eine Verbindlichkeit, mithin das Bezweifeln    
  29 derselben eine Schuld zu enthalten. Antwort: Man kann dieses    
  30 einräumen, wenn vom Kirchenglauben die Rede ist, bei dem es auf keine    
  31 andere Praxis als die der angeordneten Gebräuche angesehen ist, wo die,    
  32 so sich zu einer Kirche bekennen, zum Fürwahrnehmen nichts mehr, als    
  33 daß die Lehre nicht unmöglich sei, bedürfen; dagegen zum Religionsglauben    
  34 Überzeugung von der Wahrheit erforderlich ist, welche aber durch    
  35 Statute (daß sie göttliche Sprüche sind) nicht beurkundigt werden kann,    
  36 weil, daß sie es sind, nur immer wiederum durch Geschichte bewiesen    
  37 werden müßte, die sich selbst für göttliche Offenbarung auszugeben nicht    
         
     

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