Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 190

   
         
 

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  01 Erfahrung zuwider und grausam. "Wenn wir wachen, so haben wir eine    
  02 gemeinschaftliche Welt; schlafen wir aber, so hat ein jeder seine eigene."    
  03 Das Träumen scheint zum Schlafen so nothwendig zu gehören, daß Schlafen    
  04 und Sterben einerlei sein würde, wenn der Traum nicht als eine    
  05 natürliche, obzwar unwillkürliche Agitation der inneren Lebensorgane    
  06 durch die Einbildungskraft hinzukäme. So erinnere ich mich sehr wohl,    
  07 wie ich als Knabe, wenn ich mich, durch Spiele ermüdet, zum Schlafe    
  08 hinlegte, im Augenblick des Einschlafens durch einen Traum, als ob ich    
  09 ins Wasser gefallen wäre und, dem Versinken nahe, im Kreise herumgedreht    
  10 würde, schnell erwachte, um aber bald wieder und ruhiger einzuschlafen,    
  11 vermuthlich weil die Thätigkeit der Brustmuskeln im Athemholen,    
  12 welches von der Willkür gänzlich abhängt, nachläßt, und so mit der Ausbleibung    
  13 des Athemholens die Bewegung des Herzens gehemmt, dadurch    
  14 aber die Einbildungskraft des Traums wieder ins Spiel versetzt werden    
  15 muß. - Dahin gehört auch die wohlthätige Wirkung des Traums beim    
  16 sogenannten Alpdrücken ( incubus ). Denn ohne diese fürchterliche Einbildung    
  17 von einem uns drückenden Gespenst und der Anstrengung aller    
  18 Muskelkraft sich in eine andere Lage zu bringen würde der Stillstand    
  19 des Bluts dem Leben geschwind ein Ende machen. Eben darum scheint    
  20 die Natur es so eingerichtet zu haben, daß bei weitem die mehrsten Träume    
  21 Beschwerlichkeiten und gefahrvolle Umstände enthalten: weil dergleichen    
  22 Vorstellungen die Kräfte der Seele mehr aufreizen, als wenn alles nach    
  23 Wunsch und Willen geht. Man träumt oft, sich nicht auf seine Füße erheben    
  24 zu können, oder sich zu verirren, in einer Predigt stecken zu bleiben,    
  25 oder aus Vergessenheit statt der Perrücke in großer Versammlung eine    
  26 Nachtmütze auf dem Kopfe zu haben, oder daß man in der Luft nach Belieben    
  27 hin und her schweben könne, oder im fröhlichen Lachen, ohne zu    
  28 wissen, warum, aufwache. - Wie es zugehe, daß wir oft im Traume in die    
  29 längst vergangene Zeit versetzt werden, mit längst Verstorbenen sprechen,    
  30 dieses selbst für einen Traum zu halten versucht werden, aber doch diese    
  31 Einbildung für Wirklichkeit zu halten uns genöthigt sehen, wird wohl    
  32 immer unerklärt bleiben. Man kann aber wohl für sicher annehmen, daß    
  33 kein Schlaf ohne Traum sein könne, und wer nicht geträumt zu haben    
  34 wähnt, seinen Traum nur vergessen habe.    
         
         
     

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