Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 198

   
         
 

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  01 dessen häusliche Angelegenheit zu besorgen hat; wobei mancherlei nicht    
  02 buchstäblich vorzuschreibende Verhaltungsregeln nöthig werden dürften.    
         
  03 Ein richtiger Verstand, geübte Urtheilskraft und gründliche    
  04 Vernunft machen den ganzen Umfang des intellectuellen Erkenntnißvermögens    
  05 aus; vornehmlich sofern dieses auch als Tüchtigkeit zu Beförderung    
  06 des Praktischen, d. i. zu Zwecken, beurtheilt wird.    
         
  07 Ein richtiger Verstand ist der gesunde Verstand, so fern er Angemessenheit    
  08 der Begriffe zum Zwecke ihres Gebrauchs enthält. So wie    
  09 nun Zulänglichkeit ( sufficientia ) und Abgemessenheit ( praecisio ), vereinigt,    
  10 die Angemessenheit, d. i. die Beschaffenheit des Begriffs ausmacht,    
  11 nicht mehr, auch nicht weniger, als der Gegenstand erfordert, zu    
  12 enthalten ( conceptus rem adaequans ): so ist ein richtiger Verstand unter    
  13 den intellectuellen Vermögen das erste und Vornehmste: weil er mit den    
  14 wenigsten Mitteln seinem Zweck ein Gnüge thut.    
         
  15 Arglist, der Kopf zur Intrigue, wird oft für großen, obwohl mißbrauchten    
  16 Verstand gehalten; aber er ist gerade nur die Denkungsart sehr    
  17 eingeschränkter Menschen und von der Klugheit, deren Schein sie an sich    
  18 hat, sehr unterschieden. Man kann nur einmal den Treuherzigen hintergehen,    
  19 was dann der eigenen Absicht des Listigen in der Folge sehr nachtheilig    
  20 wird.    
         
  21 Der unter gemessenen Befehlen stehende Haus= oder Staatsdiener    
  22 braucht nur Verstand zu haben; der Officier, dem für das ihm aufgetragene    
  23 Geschäfte nur die allgemeine Regel vorgeschrieben und nun überlassen    
  24 wird, was in vorkommendem Falle zu thun sei, selbst zu bestimmen,    
  25 bedarf Urtheilskraft; der General, der die möglichen Fälle beurtheilen    
  26 und für sie sich die Regel selbst ausdenken soll, muß Vernunft besitzen.    
  27 Die zu diesen verschiedenen Vorkehrungen erforderlichen Talente sind sehr    
  28 verschieden. "Mancher glänzt auf der zweiten Stufe, welcher auf der    
  29 obersten unsichtbar wird" ( Tel brille au second rang, qui s'eclipse au    
  30 premier ).    
         
  31 Klügeln ist nicht Verstand haben, und wie Christina von Schweden    
  32 Maximen zur Schau aufstellen, gegen welche doch ihre That im Widerspruche    
  33 ist, heißt nicht vernünftig sein. - Es ist hiemit wie mit der Antwort    
  34 des Grafen Rochester, die er dem englischen König Karl II. gab,    
  35 bewandt, als dieser ihn in einer tief nachdenkenden Stellung antraf und    
  36 fragte: "Was sinnet Ihr denn so tief nach?" - Antw.: "Ich mache Ewr.    
  37 Maj. die Grabschrift." - Fr.: "Wie lautet sie?" Antw.: "Hier ruht    
         
     

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