Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 201

   
         
 

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  01 Das Zeitalter der Gelangung des Menschen zum vollständigen Gebrauch    
  02 seiner Vernunft kann in Ansehung seiner Geschicklichkeit (Kunstvermögens    
  03 zu beliebiger Absicht) etwa ins zwanzigste, das in Ansehung    
  04 der Klugheit (andere Menschen zu seinen Absichten zu brauchen) ins    
  05 vierzigste, endlich das der Weisheit etwa im sechzigsten anberaumt    
  06 werden; in welcher letzteren Epoche aber sie mehr negativ ist, alle Thorheiten    
  07 der beiden ersteren einzusehen; wo man sagen kann: "es ist    
  08 Schade alsdann sterben zu müssen, wenn man nun allererst gelernt hat,    
  09 wie man recht gut hätte leben sollen," und wo selbst dieses Urtheil noch    
  10 selten ist; indem die Anhänglichkeit am Leben desto stärker wird, je weniger    
  11 es sowohl im Thun als Genießen Werth hat.    
         
  12 § 44. So wie das Vermögen zum Allgemeinen (der Regel) das Besondere [ entsprechender Abschnitt in den Reflexionen zur Antropologie (AA XV, 189)]    
  13 auszufinden Urtheilskraft, so ist dasjenige zum Besondern    
  14 das Allgemeine auszudenken der Witz ( ingenium ). Das erstere geht auf    
  15 Bemerkung der Unterschiede unter dem Mannigfaltigen, zum Theil Identischen;    
  16 das zweite auf die Identität des Mannigfaltigen, zum Theil Verschiedenen.    
  17 Das vorzüglichste Talent in beiden ist, auch die kleinsten    
  18 Ähnlichkeiten oder Unähnlichkeiten zu bemerken. Das Vermögen dazu    
  19 ist Scharfsinnigkeit ( acumen ), und Bemerkungen dieser Art heißen    
  20 Subtilitäten: welche, wenn sie doch die Erkenntniß nicht weiter bringen,    
  21 leere Spitzfindigkeiten oder eitele Vernünfteleien ( vanae argutationes )    
  22 heißen und, obgleich eben nicht unwahre, doch unnütze Verwendung    
  23 des Verstandes überhaupt sich zu Schulden kommen lassen. - Also ist    
  24 die Scharfsinnigkeit nicht blos an die Urtheilskraft gebunden, sondern    
  25 kommt auch dem Witze zu; nur daß sie im erstern Fall mehr der Genauigkeit    
  26 halber ( cognitio exacta ), im zweiten des Reichthums des    
  27 guten Kopfs wegen als verdienstlich betrachtet wird: weshalb auch der    
  28 Witz blühend genannt wird; und wie die Natur in ihren Blumen mehr    
  29 ein Spiel, dagegen in den Früchten ein Geschäfte zu treiben scheint, so    
  30 wird das Talent, was in diesem angetroffen wird, für geringer im Rang    
  31 (nach den Zwecken der Vernunft) als das beurtheilt, was der ersteren zukommt.    
  32 Der gemeine und gesunde Verstand macht weder Anspruch    
  33 auf Witz noch auf Scharfsinnigkeit: welche eine Art von Luxus der Köpfe    
  34 abgeben, da hingegen jener sich auf das wahre Bedürfniß einschränkt.    
         
         
     

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