Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 225

   
         
 

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  01 - Der Mechanism der Unterweisung, weil diese jederzeit den Schüler zur    
  02 Nachahmung nöthigt, ist dem Aufkeimen eines Genies, nämlich was seine    
  03 Originalität betrifft zwar allerdings nachtheilig. Aber jede Kunst bedarf    
  04 doch gewisser mechanischer Grundregeln, nämlich der Angemessenheit des    
  05 Products zur untergelegten Idee, d. i. Wahrheit in der Darstellung des    
  06 Gegenstandes, der gedacht wird. Das muß nun mit Schulstrenge gelernt    
  07 werden und ist allerdings eine Wirkung der Nachahmung. Die Einbildungskraft    
  08 aber auch von diesem Zwange zu befreien und das eigenthümliche    
  09 Talent, sogar der Natur zuwider, regellos verfahren und schwärmen    
  10 zu lassen, würde vielleicht originale Tollheit abgeben, die aber freilich nicht    
  11 musterhaft sein und also auch nicht zum Genie gezählt werden würde.    
         
  12 Geist ist das belebende Princip im Menschen. In der französischen    
  13 Sprache führen Geist und Witz einerlei Namen, Esprit . Im Deutschen    
  14 ist es anders. Man sagt: eine Rede, eine Schrift, eine Dame in    
  15 Gesellschaft u. s. w. ist schön; aber ohne Geist. Der Vorrath von Witz    
  16 macht es hier nicht aus; denn man kann sich auch diesen verekeln, weil    
  17 seine Wirkung nichts Bleibendes hinterläßt. Wenn alle jene obgenannte    
  18 Sachen und Personen geistvoll heißen sollen, so müssen sie ein Interesse    
  19 erregen und zwar durch Ideen. Denn das setzt die Einbildungskraft    
  20 in Bewegung, welche für dergleichen Begriffe einen großen Spielraum vor    
  21 sich sieht. Wie wäre es also: wenn wir das französische Wort genie mit dem    
  22 deutschen eigenthümlicher Geist ausdrückten; denn unsere Nation läßt    
  23 sich bereden, die Franzosen hätten ein Wort dafür aus ihrer eigenen    
  24 Sprache, dergleichen wir in der unsrigen nicht hätten, sondern von ihnen    
  25 borgen müßten, da sie es doch selbst aus dem Lateinischen ( genius ) geborgt    
  26 haben, welches nichts anders als einen eigenthümlichen Geist bedeutet.    
         
  28 Die Ursache aber, weswegen die musterhafte Originalität des Talents    
  29 mit diesem mystischen Namen benannt wird, ist, weil der, welcher    
  30 dieses hat, die Ausbrüche desselben sich nicht erklären oder auch, wie er zu    
  31 einer Kunst komme, die er nicht hat erlernen können, sich selbst nicht begreiflich    
  32 machen kann. Denn Unsichtbarkeit (der Ursache zu einer Wirkung)    
  33 ist ein Nebenbegriff vom Geiste (einem genius , der dem Talentvollen    
  34 schon in seiner Geburt beigesellt worden), dessen Eingebung gleichsam er    
  35 nur folgt. Die Gemüthskräfte aber müssen hiebei vermittelst der Einbildungskraft    
  36 harmonisch bewegt werden, weil sie sonst nicht beleben, sondern    
  37 sich einander stören würden, und das muß durch die Natur des Subjects    
         
     

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