Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 238

   
         
 

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  01 § 65. Vergnügen, was man selbst (gesetzmäßig) erwirbt, wird verdoppelt    
  02 gefühlt; einmal als Gewinn und dann noch obenein als Verdienst    
  03 (die innere Zurechnung selbst Urheber desselben zu sein). - Erarbeitetes    
  04 Geld vergnügt, wenigstens dauerhafter, als im Glücksspiel    
  05 gewonnenes, und wenn man auch über das Allgemeinschädliche der Lotterie    
  06 wegsieht, so liegt doch im Gewinn durch dieselbe etwas, dessen sich ein wohldenkender    
  07 Mensch schämen muß. - Ein Übel, daran eine fremde Ursache    
  08 schuld ist, schmerzt; aber woran man selbst schuld ist, betrübt und schlägt    
  09 nieder.    
         
  10 Wie ist es aber zu erklären oder zu vereinigen: daß bei einem Übel,    
  11 was jemanden von Anderen widerfährt, zweierlei Sprache geführt wird?    
  12 - So sagt z. B. einer der Leidenden: "Ich wollte mich zufrieden geben,    
  13 wenn ich nur die mindeste Schuld daran hätte;" ein Zweiter aber: "Es    
  14 ist mein Trost, daß ich daran ganz unschuldig bin." - Unschuldig leiden    
  15 entrüstet: weil es Beleidigung von einem Anderen ist. - Schuldig leiden    
  16 schlägt nieder: weil es innerer Vorwurf ist. - Man sieht leicht, daß von    
  17 jenen beiden der Zweite der bessere Mensch sei.    
         
  18 § 66. Es ist eben nicht die lieblichste Bemerkung an Menschen: daß [ entsprechender Abschnitt in den Reflexionen zur Antropologie (AA XV, 254)]    
  19 ihr Vergnügen durch Vergleichung mit Anderer ihrem Schmerz erhöht,    
  20 der eigene Schmerz aber durch die Vergleichung mit Anderer ähnlichen [ entsprechender Abschnitt in den Reflexionen zur Antropologie (AA XV, 264)]    
  21 oder noch größeren Leiden vermindert wird. Diese Wirkung ist aber blos    
  22 psychologisch (nach dem Satze des Contrastes: opposita iuxta se posita    
  23 magis elucescunt ) und hat keine Beziehung aufs Moralische: etwa Anderen    
  24 Leiden zu wünschen, damit man die Behaglichkeit seines eigenen Zustandes    
  25 desto inniglicher fühlen möge. Man leidet vermittelst der Einbildungskraft    
  26 mit dem Anderen mit (so wie, wenn man jemanden, aus    
  27 dem Gleichgewicht gekommen, dem Fallen nahe sieht, man unwillkürlich    
  28 und vergeblich sich auf die Gegenseite hinbeugt, um ihn gleichsam gerade    
  29 zu stellen) und ist nur froh in dasselbe Schicksal nicht auch verflochten zu    
  30 sein.*) Daher läuft das Volk mit heftiger Begierde, die Hinführung eines    
  31 Delinquenten und dessen Hinrichtung anzusehen, als zu einem Schauspiel.    
  32 Denn die Gemüthsbewegungen und Gefühle, die sich an seinem Gesicht    
         
    *) Suave, mari magno turbantibus aequora ventis, E terra alterius magnum spectare laborem; Non quia vexari quenquam est iucunda voluptas, Sed quibus ipse malis careas quia cernere suave est. Lucret.    
         
     

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