Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 312

   
         
 

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  01 Frankreich, auch ihrem angebornen Charakter nach, von dem der erworbene    
  02 und künstliche nur die Folge ist, vielleicht die einzigen Völker sein,    
  03 von denen man einen bestimmten und, so lange sie nicht durch Kriegsgewalt    
  04 vermischt werden, unveränderlichen Charakter annehmen kann.    
  05 Daß die französische Sprache die allgemeine Conversations=Sprache    
  06 vornehmlich der weiblichen feinen Welt, die englische aber die ausgebreiteteste    
  07 Handels=Sprache*) der commercirenden geworden ist, liegt wohl    
  08 in dem Unterschiede ihrer continental= und insularischen Lage. Was aber    
  09 ihr Naturell, was sie jetzt wirklich haben, und dessen Ausbildung durch    
  10 Sprache betrifft, so müßte dieses von dem angebornen Charakter des Urvolks    
  11 ihrer Abstammung hergeleitet werden; dazu uns aber die Documente    
  12 mangeln. - In einer Anthropologie in pragmatischer Hinsicht aber liegt    
  13 uns nur daran: den Charakter beider, wie sie jetzt sind, in einigen Beispielen,    
  14 und so weit es möglich ist, systematisch aufzustellen; welche urtheilen    
  15 lassen, wessen sich das eine zu dem anderen zu versehen habe, und wie    
  16 eines das andere zu seinem Vortheil benutzen könne.    
         
  17 Die angestammten oder durch langen Gebrauch gleichsam zur Natur    
  18 gewordenen und auf sie gepfropften Maximen, welche die Sinnesart eines    
  19 Volks ausdrücken, sind nur so viel gewagte Versuche, die Varietäten im    
  20 natürlichen Hang ganzer Völker mehr für den Geographen, empirisch, als    
  21 für den Philosophen, nach Vernunftprincipien, zu classificiren.**)    
         
         
    *) Der kaufmännische Geist zeigt auch gewisse Modificationen seines Stolzes in der Verschiedenheit des Tons im Großthun. Der Engländer sagt: "Der Mann ist eine Million werth"; der Holländer: "Er commandirt eine Million"; der Franzose: "Er besitzt eine Million."    
         
    **) Die Türken, welche das christliche Europa Frankestan nennen, wenn sie auf Reisen gingen, um Menschen und ihren Volkscharakter kennen zu lernen (welches kein Volk außer dem europäischen thut und die Eingeschränktheit aller übrigen an Geist beweiset), würden die Eintheilung desselben, nach dem Fehlerhaften in ihrem Charakter gezeichnet, vielleicht auf folgende Art machen: 1. Das Modenland (Frankreich). - 2. Das Land der Launen (England). - 3. Ahnenland (Spanien). - 4. Prachtland (Italien). - 5. Das Titelland (Deutschland sammt Dänemark und Schweden, als germanischen Völkern). - 6. Herrenland (Polen), wo ein jeder Staatsbürger Herr, keiner dieser Herren aber außer dem, der nicht Staatsbürger ist, Unterthan sein will. - - Rußland und die europäische Türkei, beide von größtentheils asiatischer Abstammung, würden über Frankestan hinaus liegen: das erste slavischen, das andere arabischen Ursprungs, von zwei Stammvölkern, die einmal ihre Herrschaft über einen größeren Theil von Europa, als je [Seitenumbruch] ein anderes Volk ausgedehnt haben und in den Zustand einer Verfassung des Gesetzes ohne Freiheit, wo also niemand Staatsbürger ist, gerathen sind.    
         
     

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