Kant: AA VIII, Über das Mißlingen ... , Seite 265

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Hiob wird als ein Mann vorgestellt, zu dessen Lebensgenuß sich      
  02 Alles vereinigt hatte, was man, um ihn vollkommen zu machen, nur immer      
  03 ausdenken mag. Gesund, wohlhabend, frei, ein Gebieter über andre, die      
  04 er glücklich machen kann, im Schoße einer glücklichen Familie, unter      
  05 geliebten Freunden; und über das Alles (was das vornehmste ist) mit      
  06 sich selbst zufrieden in einem guten Gewissen. Alle diese Güter, das letzte      
  07 ausgenommen, entriß ihm plötzlich ein schweres über ihn zur Prüfung      
  08 verhängtes Schicksal. Von der Betäubung über diesen unerwarteten Umsturz      
  09 allmählig zum Besinnen gelangt, bricht er nun in Klagen über      
  10 seinen Unstern aus; worüber zwischen ihm und seinen vorgeblich sich zum      
  11 Trösten einfindenden Freunden es bald zu einer Disputation kommt, worin      
  12 beide Theile, jeder nach seiner Denkungsart (vornehmlich aber nach      
  13 seiner Lage), seine besondere Theodicee zur moralischen Erklärung jenes      
  14 schlimmen Schicksals aufstellt. Die Freunde Hiobs bekennen sich zu dem      
  15 System der Erklärung aller Übel in der Welt aus der göttlichen Gerechtigkeit,      
  16 als so vieler Strafen für begangene Verbrechen; und ob sie zwar      
  17 keine zu nennen wußten, die dem unglücklichen Mann zu Schulden kommen      
  18 sollten, so glaubten sie doch a priori urtheilen zu können, er müßte deren      
  19 auf sich ruhen haben, weil es sonst nach der göttlichen Gerechtigkeit nicht      
  20 möglich wäre, daß er unglücklich sei. Hiob dagegen - der mit Entrüstung      
  21 betheuert, daß ihm sein Gewissen seines ganzen Lebens halber keinen      
  22 Vorwurf mache; was aber menschliche unvermeidliche Fehler betrifft, Gott      
  23 selbst wissen werde, daß er ihn als ein gebrechliches Geschöpf gemacht habe      
  24 - erklärt sich für das System des unbedingten göttlichen Rathschlusses.      
  25 "Er ist einig," sagt er, "er machts, wie er will"*).      
           
  26 In dem, was beide Theile vernünfteln oder übervernünfteln, ist wenig      
  27 Merkwürdiges; aber der Charakter, in welchem sie es thun, verdient desto      
  28 mehr Aufmerksamkeit. Hiob spricht, wie er denkt, und wie ihm zu Muthe      
  29 ist, auch wohl jedem Menschen in seiner Lage zu Muthe sein würde; seine      
  30 Freunde sprechen dagegen, wie wenn sie ingeheim von dem Mächtigern,      
  31 über dessen Sache sie Recht sprechen, und bei dem sich durch ihr Urtheil      
  32 in Gunst zu setzen ihnen mehr am Herzen liegt als an der Wahrheit, behorcht      
  33 würden. Diese ihre Tücke, Dinge zum Schein zu behaupten, von      
  34 denen sie doch gestehen mußten, daß sie sie nicht einsahen, und eine Überzeugung      
  35 zu heucheln, die sie in der That nicht hatten, sticht gegen Hiobs      
           
    *) Hiob XXIII 13.      
           
     

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