Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 034

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Begriff wird. Das werden wir an seinem Orte auch anzeigen. Wir      
  02 werden aber nicht untersuchen: Wie Vorstellungen entspringen? Zwar      
  03 handelt die Logik auch vom Erkennen, weil beim Erkennen schon Denken      
  04 stattfindet. Aber Vorstellung ist noch nicht Erkenntniß, sondern Erkenntniß      
  05 setzt immer Vorstellung voraus. Und diese letztere läßt sich auch      
  06 durchaus nicht erklären. Denn man müßte, was Vorstellung sei? doch      
  07 immer wiederum durch eine andere Vorstellung erklären.      
           
  08 Alle klaren Vorstellungen, auf die sich allein die logischen Regeln anwenden      
  09 lassen, können nun unterschieden werden in Ansehung der Deutlichkeit      
  10 und Undeutlichkeit. Sind wir uns der ganzen Vorstellung      
  11 bewußt, nicht aber des Mannigfaltigen, das in ihr enthalten ist: so ist die      
  12 Vorstellung undeutlich. Zur Erläuterung der Sache zuerst ein Beispiel      
  13 in der Anschauung.      
           
  14 Wir erblicken in der Ferne ein Landhaus. Sind wir uns bewußt,      
  15 daß der angeschaute Gegenstand ein Haus ist, so müssen wir nothwendig      
  16 doch auch eine Vorstellung von den verschiedenen Theilen dieses Hauses,      
  17 den Fenstern, Thüren u. s. w. haben. Denn sähen wir die Theile nicht,      
  18 so würden wir auch das Haus selbst nicht sehen. Aber wir sind uns dieser      
  19 Vorstellung von dem Mannigfaltigen seiner Theile nicht bewußt und      
  20 unsre Vorstellung von dem gedachten Gegenstande selbst ist daher eine undeutliche      
  21 Vorstellung.      
           
  22 Wollen wir ferner ein Beispiel von Undeutlichkeit in Begriffen: so      
  23 möge der Begriff der Schönheit dazu dienen. Ein jeder hat von der      
  24 Schönheit einen klaren Begriff. Allein es kommen in diesem Begriffe verschiedene      
  25 Merkmale vor, unter andern, daß das Schöne etwas sein müsse,      
  26 das 1) in die Sinne fällt und das 2) allgemein gefällt. Können wir uns      
  27 nun das Mannigfaltige dieser und andrer Merkmale des Schönen nicht      
  28 auseinandersetzen, so ist unser Begriff davon doch immer noch undeutlich.      
           
  29 Die undeutliche Vorstellung nennen Wolffs Schüler eine verworrene.      
  30 Allein dieser Ausdruck ist nicht passend, weil das Gegentheil von      
  31 Verwirrung nicht Deutlichkeit, sondern Ordnung ist. Zwar ist Deutlichkeit      
  32 eine Wirkung der Ordnung und Undeutlichkeit eine Wirkung der Verwirrung;      
  33 und es ist also jede verworrene Erkenntniß auch eine undeutliche.      
  34 Aber der Satz gilt nicht umgekehrt; nicht alle undeutliche Erkenntniß      
  35 ist eine verworrene. Denn bei Erkenntnissen, in denen kein      
  36 Mannigfaltiges vorhanden ist, findet keine Ordnung, aber auch keine Verwirrung      
  37 statt.      
           
           
     

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