Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 050

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Wahrheit. Wahrheit, sagt man, besteht in der Übereinstimmung der      
  02 Erkenntniß mit dem Gegenstande. Dieser bloßen Worterklärung zufolge      
  03 soll also mein Erkenntniß, um als wahr zu gelten, mit dem Object übereinstimmen.      
  04 Nun kann ich aber das Object nur mit meinem Erkenntnisse      
  05 vergleichen, dadurch daß ich es erkenne. Meine Erkenntniß soll sich      
  06 also selbst bestätigen, welches aber zur Wahrheit noch lange nicht hinreichend      
  07 ist. Denn da das Object außer mir und die Erkenntniß in mir ist,      
  08 so kann ich immer doch nur beurtheilen: ob meine Erkenntniß vom Object      
  09 mit meiner Erkenntniß vom Object übereinstimme. Einen solchen Cirkel      
  10 im Erklären nannten die Alten Diallele. Und wirklich wurde dieser      
  11 Fehler auch immer den Logikern von den Skeptikern vorgeworfen, welche      
  12 bemerkten: es verhalte sich mit jener Erklärung der Wahrheit eben so, wie      
  13 wenn jemand vor Gericht eine Aussage thue und sich dabei auf einen      
  14 Zeugen berufe, den niemand kenne, der sich aber dadurch glaubwürdig      
  15 machen wolle, daß er behaupte, der, welcher ihn zum Zeugen aufgerufen,      
  16 sei ein ehrlicher Mann. Die Beschuldigung war allerdings gegründet.      
  17 Nur ist die Auflösung der gedachten Aufgabe schlechthin und für jeden      
  18 Menschen unmöglich.      
           
  19 Es frägt sich nämlich hier: Ob und in wie fern es ein sicheres, allgemeines      
  20 und in der Anwendung brauchbares Kriterium der Wahrheit gebe?      
  21 Denn das soll die Frage: Was ist Wahrheit? bedeuten.      
           
  22 Um diese wichtige Frage entscheiden zu können, müssen wir das, was      
  23 in unserm Erkenntnisse zur Materie desselben gehört und auf das Object      
  24 sich bezieht, von dem, was die bloße Form, als diejenige Bedingung      
  25 betrifft, ohne welche ein Erkenntniß gar kein Erkenntniß überhaupt sein      
  26 würde, wohl unterscheiden. Mit Rücksicht auf diesen Unterschied zwischen      
  27 der objectiven, materialen und der subjectiven, formalen Beziehung      
  28 in unserm Erkenntnisse, zerfällt daher die obige Frage in die      
  29 zwei besondern:      
           
  30 1) Giebt es ein allgemeines materiales, und      
  31 2) Giebt es ein allgemeines formales Kriterium der Wahrheit?      
           
  32 Ein allgemeines materiales Kriterium der Wahrheit ist nicht möglich;      
  33 es ist sogar in sich selbst widersprechend. Denn als ein allgemeines,      
  34 für alle Objecte überhaupt gültiges, müßte es von allem Unterschiede      
  35 derselben völlig abstrahiren und doch auch zugleich als ein materiales      
  36 Kriterium eben auf diesen Unterschied gehen, um bestimmen zu können,      
  37 ob ein Erkenntniß gerade mit demjenigen Objecte, worauf es bezogen      
           
     

[ Seite 049 ] [ Seite 051 ] [ Inhaltsverzeichnis ]