Kant: AA IX, Immanuel Kants physische ... , Seite 157

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Die Erfahrungen der Natur und des Menschen machen zusammen      
  02 die Welterkenntnisse aus. Die Kenntniß des Menschen lehrt uns      
  03 die Anthropologie, die Kenntniß der Natur verdanken wir der physischen      
  04 Geographie oder Erdbeschreibung. Freilich Erfahrungen      
  05 im strengsten Sinne giebt es nicht, sondern nur Wahrnehmungen, die      
  06 zusammengenommen die Erfahrung ausmachen würden. Wir nehmen      
  07 jenen Ausdruck hier auch wirklich nur als den gewöhnlichen in der Bedeutung      
  08 von Wahrnehmungen.      
           
  09 Die physische Erdbeschreibung ist also der erste Theil der Weltkenntniß.      
  10 Sie gehört zu einer Idee, die man die Propädeutik in der Erkenntniß      
  11 der Welt nennen kann. Der Unterricht in derselben scheint      
  12 noch sehr mangelhaft zu sein. Nichtsdestoweniger ist es gerade sie, von      
  13 der man in allen nur möglichen Verhältnissen des Lebens den nützlichsten      
  14 Gebrauch zu machen im Stande ist. Demzufolge wird es nothwendig, sie      
  15 sich als eine Erkenntniß bekannt zu machen, die man durch Erfahrung vervollständigen      
  16 und berichtigen kann.      
           
  17 Wir anticipiren unsere künftige Erfahrung, die wir nachmals in der      
  18 Welt haben werden, durch einen Unterricht und allgemeinen Abriß dieser      
  19 Art, der uns gleichsam von Allem einen Vorbegriff giebt. Von demjenigen,      
  20 der viele Reisen gemacht hat, sagt man, er habe die Welt gesehen.      
  21 Aber zur Kenntniß der Welt gehört mehr, als bloß die Welt sehen. Wer      
  22 aus seiner Reise Nutzen ziehen will, der muß sich schon im Voraus einen      
  23 Plan zu seiner Reise entwerfen, nicht aber die Welt bloß als einen Gegenstand      
  24 des äußern Sinnes betrachten.      
           
  25 Der andere Theil der Weltkenntniß befaßt die Kenntniß des      
  26 Menschen. Der Umgang mit Menschen erweitert unsere Erkenntnisse.      
  27 Nichtsdestoweniger ist es nöthig, für alle künftigen Erfahrungen dieser Art      
  28 eine Vorübung zu geben, und das thut die Anthropologie. Aus ihr      
  29 macht man sich mit dem bekannt, was in dem Menschen pragmatisch ist      
  30 und nicht speculativ. Der Mensch wird da nicht physiologisch, so da      
  31 man die Quellen der Phänomene unterscheidet, sondern kosmologisch      
  32 betrachtet.*)      
  33 Es mangelt noch sehr an einer Unterweisung, wie man seine bereits      
  34 erworbenen Erkenntnisse in Anwendung zu bringen und einen seinem      
           
    *) Vergl. Kants Vorrede zu seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Zweite Aufl. Königsb. 1800. gr. 8.      
           
     

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