Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 441

     
           
 

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  01 Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß.      
  02 Unter der Erziehung nämlich verstehen wir die Wartung (Verpflegung,      
  03 Unterhaltung), Disciplin (Zucht) und Unterweisung nebst der Bildung.      
  04 Dem zufolge ist der Mensch Säugling, - Zögling - und Lehrling.      
           
  05 Die Thiere gebrauchen ihre Kräfte, sobald sie deren nur welche haben,      
  06 regelmäßig, d. h. in der Art, daß sie ihnen selbst nicht schädlich werden.      
  07 Es ist in der That bewundernswürdig, wenn man z. E. die jungen Schwalben      
  08 wahrnimmt, die kaum aus den Eiern gekrochen und noch blind sind, wie      
  09 die es nichts desto weniger zu machen wissen, daß sie ihre Excremente aus      
  10 dem Neste fallen lassen. Thiere brauchen daher keine Wartung, höchstens      
  11 Futter, Erwärmung und Anführung, oder einen gewissen Schutz. Ernährung      
  12 brauchen wohl die meisten Thiere, aber keine Wartung. Unter      
  13 Wartung nämlich versteht man die Vorsorge der Eltern, daß die Kinder      
  14 keinen schädlichen Gebrauch von ihren Kräften machen. Sollte ein Thier      
  15 z. E. gleich, wenn es auf die Welt kommt, schreien, wie die Kinder es thun:      
  16 so würde es unfehlbar der Raub der Wölfe und anderer wilden Thiere      
  17 werden, die es durch sein Geschrei herbeigelockt.      
           
  18 Disciplin oder Zucht ändert die Thierheit in die Menschheit um. Ein      
  19 Thier ist schon alles durch seinen Instinct; eine fremde Vernunft hat bereits      
  20 Alles für dasselbe besorgt. Der Mensch aber braucht eigene Vernunft. Er      
  21 hat keinen Instinct und muß sich selbst den Plan seines Verhaltens machen.      
  22 Weil er aber nicht sogleich im Stande ist, dieses zu thun, sondern roh auf      
  23 die Welt kommt: so müssen es Andere für ihn thun.      
           
  24 Die Menschengattung soll die ganze Naturanlage der Menschheit durch      
  25 ihre eigne Bemühung nach und nach von selbst herausbringen. Eine      
  26 Generation erzieht die andere. Den ersten Anfang kann man dabei in      
  27 einem rohen, oder auch in einem vollkommnen, ausgebildeten Zustande      
  28 suchen. Wenn dieser letztere als vorher und zuerst gewesen angenommen      
           
     

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