Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 456

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
Von der physischen Erziehung.
     
           
  02 Ob auch gleich derjenige, der eine Erziehung als Hofmeister übernimmt,      
  03 die Kinder nicht so früh unter seine Aufsicht bekommt, daß er auch      
  04 für die physische Erziehung derselben Sorge tragen kann: so ist es doch      
  05 nützlich zu wissen, was Alles bei der Erziehung von ihrem Anfange ab      
  06 bis zu ihrem Ende zu beobachten nöthig ist. Wenn man es auch als Hofmeister      
  07 nur mit größern Kindern zu thun hat, so geschieht es doch wohl,      
  08 daß in dem Hause neue Kinder geboren werden, und wenn man sich gut      
  09 führt, so hat man immer Ansprüche darauf, der Vertraute der Eltern zu      
  10 sein und auch bei der physischen Erziehung von ihnen zu Rathe gezogen      
  11 zu werden, da man ohnedem oft nur der einzige Gelehrte im Hause ist.      
  12 Daher sind einem Hofmeister auch Kenntnisse hievon nöthig.      
           
  13 Die physische Erziehung ist eigentlich nur Verpflegung, entweder      
  14 durch Eltern, oder Ammen, oder Wärterinnen. Die Nahrung, die die      
  15 Natur dem Kinde bestimmt hat, ist die Muttermilch. Daß das Kind mit      
  16 ihr Gesinnungen einsauge, wie man oft sagen hört: du hast das schon mit      
  17 der Muttermilch eingesogen! ist ein bloßes Vorurtheil*). Es ist der Mutter      
  18 und dem Kinde am zuträglichsten, wenn die Mutter selbst säugt. Doch      
  19 finden auch hier im äußersten Falle wegen kränklicher Umstände Ausnahmen      
  20 Statt. Man glaubte vor Zeiten, daß die erste Milch, die sich      
  21 nach der Geburt bei der Mutter findet und molkicht ist, dem Kinde schädlich      
  22 sei, und daß die Mutter sie erst fortschaffen müsse, ehe sie das Kind      
  23 säugen könne. Rousseau machte aber zuerst die Ärzte aufmerksam darauf,      
  24 ob diese erste Milch nicht auch dem Kinde zuträglich sein könne, indem      
  25 doch die Natur nichts umsonst veranstaltet habe. Und man hat auch      
  26 wirklich gefunden, daß diese Milch am besten den Unrath, der sich bei neugebornen      
  27 Kindern vorfindet, und den die Ärzte Miconium nennen, fortschaffe      
  28 und also den Kindern höchst zuträglich sei.      
           
  29 Man hat die Frage aufgeworfen: ob man nicht das Kind eben so      
  30 wohl mit thierischer Milch nähren könne. Menschenmilch ist sehr von der      
  31 thierischen verschieden. Die Milch aller grasfressenden, von Vegetabilien      
           
    *) Specielle Laster dürften sich vielleicht eben so wenig, als specielle Krankheiten auf Kinder vererben, obwohl auch darüber die Meinungen noch sehr getheilt sind; aber eine größere Empfänglichkeit für jene wie für diese auf dem Wege der Fortpflanzung und ersten Nahrung scheint denn doch nichts der Vernunft Widersprechendes zu enthalten. A. d. H.      
           
     

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