Kant: AA II, Der einzig mögliche ... , Seite 115

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 daß in dem Auge der Blätter oder seinem Samen etwas entstände, das      
  02 einen ähnlichen Baum im kleinen, oder woraus doch ein solcher werden      
  03 könnte, enthielte, ist nach allen unsern Kenntnissen auf keine Weise einzusehen.      
  04 Die innerliche Formen des Herrn von Buffon und die Elemente      
  05 organischer Materie, die sich zu Folge ihrer Erinnerungen den Gesetzen der      
  06 Begierden und des Abscheues gemäß nach der Meinung des Herrn      
  07 von Maupertuis zusammenfügen, sind entweder eben so unverständlich      
  08 als die Sache selbst, oder ganz willkürlich erdacht. Allein ohne sich an dergleichen      
  09 Theorien zu kehren, muß man denn darum selbst eine andere dafür      
  10 aufwerfen, die eben so willkürlich ist, nämlich daß alle diese Individuen      
  11 übernatürlichen Ursprungs seien, weil man ihre natürliche Entstehungsart      
  12 gar nicht begreift? Hat wohl jemals einer das Vermögen des      
  13 Hefens seines gleichen zu erzeugen mechanisch begreiflich gemacht? und      
  14 gleichwohl bezieht man sich desfalls nicht auf einen übernatürlichen      
  15 Grund.      
           
  16 Da in diesem Falle der Ursprung aller solcher organischen Producte      
  17 als völlig übernatürlich angesehen wird, so glaubt man dennoch etwas für      
  18 den Naturphilosophen übrig zu lassen, wenn man ihn mit der Art der      
  19 allmähligen Fortpflanzung spielen läßt. Allein man bedenke wohl: daß      
  20 man dadurch das übernatürliche nicht vermindert, denn es mag diese      
  21 übernatürliche Erzeugung zur Zeit der Schöpfung oder nach und nach in      
  22 verschiedenen Zeitpunkten geschehen, so ist in dem letzteren Falle nicht mehr      
  23 Übernatürliches als im ersten, denn der ganze Unterschied läuft nicht auf      
  24 den Grad der unmittelbaren göttlichen Handlung, sondern lediglich auf      
  25 das Wenn hinaus. Was aber jene natürliche Ordnung der Auswickelung      
  26 anlangt, so ist sie nicht eine Regel der Fruchtbarkeit der Natur, sondern      
  27 eine Methode eines unnützen Umschweifs. Denn es wird dadurch nicht      
  28 der mindeste Grad einer unmittelbaren göttlichen Handlung bespart. Demnach      
  29 scheint es unvermeidlich: entweder bei jeder Begattung die Bildung      
  30 der Frucht unmittelbar einer göttlichen Handlung beizumessen, oder der      
  31 ersten göttlichen Anordnung der Pflanzen und Thiere eine Tauglichkeit      
  32 zuzulassen, ihres Gleichen in der Folge nach einem natürlichen Gesetze      
  33 nicht blos zu entwickeln, sondern wahrhaftig zu erzeugen.      
           
  34 Meine gegenwärtige Absicht ist nur hiedurch zu zeigen, daß man den      
  35 Naturdingen eine größere Möglichkeit nach allgemeinen Gesetzen ihre      
  36 Folgen hervorzubringen einräumen müsse, als man es gemeiniglich thut.      
           
           
     

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