Kant: AA II, Träume eines Geistersehers, ... , Seite 320

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Denn wovon man frühueitig als ein Kind sehr viel weiß, davon ist man      
  02 sicher, später hin und im Alter nichts zu wissen, und der Mann der Gründlichkeit      
  03 wird zuletzt höchstens der Sophist seines Jugendwahnes.      
           
  04 Ich weiß also nicht, ob es Geister gebe, ja was noch mehr ist, ich      
  05 weiß nicht einmal, was das Wort Geist bedeute. Da ich es indessen oft      
  06 selbst gebraucht oder andere habe brauchen hören, so muß doch etwas darunter      
  07 verstanden werden, es mag nun dieses Etwas ein Hirngespinst      
  08 oder was Wirkliches sein. Um diese versteckte Bedeutung auszuwickeln, so      
  09 halte ich meinen schlecht verstandenen Begriff an allerlei Fälle der Anwendung,      
  10 und dadurch, daß ich bemerke, auf welchen er trifft und welchem      
  11 er zuwider ist, verhoffe ich dessen verborgenen Sinn zu entfalten.*)      
           
  12 Nehmet etwa einen Raum von einem Kubikfuß und setzet, es sei etwas,      
  13 das diesen Raum erfüllt, d. i. dem Eindringen jedes andern Dinges      
  14 widersteht, so wird niemand das Wesen, was auf solche Weise im Raum      
  15 ist, geistig nennen. Es würde offenbar materiell heißen, weil es ausgedehnt,      
  16 undurchdringlich und wie alles Körperliche der Theilbarkeit und      
  17 den Gesetzen des Stoßes unterworfen ist. Bis dahin sind wir noch auf      
  18 dem gebähnten Gleise anderer Philosophen. Allein denket euch ein einfaches      
  19 Wesen und gebet ihm zugleich Vernunft; wird dies alsdann die      
  20 Bedeutung des Wortes Geist gerade ausfüllen? Damit ich dieses entdecke,      
           
    *) Wenn der Begriff eines Geistes von unsern eignen Erfahrungsbegriffen abgesondert wäre, so würde das Verfahren ihn deutlich zu machen leicht sein, indem man nur diejenigen Merkmale anzuzeigen hätte, welche uns die Sinne an dieser Art Wesen offenbarten, und wodurch wir sie von materiellen Dingen unterscheiden. Nun aber wird von Geistern geredet, selbst alsdann, wenn man zweifelt, ob es gar dergleichen Wesen gebe. Also kann der Begriff von der geistigen Natur nicht als ein von der Erfahrung abstrahirter behandelt werden. Fragt ihr aber: Wie ist man denn zu diesem Begriff überhaupt gekommen, wenn es nicht durch Abstraction geschehen ist? Ich antworte: Viele Begriffe entspringen durch geheime und dunkele Schlüsse bei Gelegenheit der Erfahrungen und pflanzen sich nachher auf andere fort ohne Bewußtsein der Erfahrung selbst oder des Schlusses, welcher den Begriff über dieselbe errichtet hat. Solche Begriffe kann man erschlichene nennen. Dergleichen sind viele, die zum Theil nichts als ein Wahn der Einbildung, zum Theil auch wahr sind, indem auch dunkele Schlüsse nicht immer irren. Der Redegebrauch und die Verbindung eines Ausdrucks mit verschiedenen Erzählungen, in denen jederzeit einerlei Hauptmerkmal anzutreffen ist, geben ihm eine bestimmte Bedeutung, welche folglich nur dadurch kann entfaltet werden, daß man diesen versteckten Sinn durch eine Vergleichung mit allerlei Fällen der Anwendung, die mit ihm einstimmig sind, oder ihm widerstreiten, aus seiner Dunkelheit hervorzieht.      
           
     

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