Kant: AA II, Träume eines Geistersehers, ... , Seite 341

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 zwar niemals unsern äußeren Sinnen gegenwärtig sein, noch sonst mit      
  02 der Materie in Gemeinschaft stehen, aber wohl auf den Geist des Menschen,      
  03 der mit ihnen zu einer großen Republik gehört, wirken, so daß die      
  04 Vorstellungen, welche sie in ihm erwecken, sich nach dem Gesetze seiner      
  05 Phantasie in verwandte Bilder einkleiden und die Apparenz der ihnen      
  06 gemäßen Gegenstände als außer ihm erregen. Diese Täuschung kann einen      
  07 jeden Sinn betreffen, und so sehr dieselbe auch mit ungereimten Hirngespinsten      
  08 untermengt wäre, so dürfte man sich dieses nicht abhalten lassen,      
  09 hierunter geistige Einflüsse zu vermuthen. Ich würde der Scharfsichtigkeit      
  10 des Lesers zu nahe treten, wenn ich mich bei der Anwendung dieser Erklärungsart      
  11 noch aufhalten wollte. Denn metaphysische Hypothesen haben      
  12 eine so ungemeine Biegsamkeit an sich, daß man sehr ungeschickt sein      
  13 müßte, wenn man die gegenwärtige nicht einer jeden Erzählung bequemen      
  14 könnte, sogar ehe man ihre Wahrhaftigkeit untersucht hat, welches in vielen      
  15 Fällen unmöglich und in noch mehreren sehr unhöflich ist.      
           
  16 Wenn indessen die Vortheile und Nachtheile in einander gerechnet      
  17 werden, die demjenigen erwachsen können, der nicht allein für die sichtbare      
  18 Welt, sondern auch für die unsichtbare in gewissem Grade organisirt ist      
  19 (wofern es jemals einen solchen gegeben hat), so scheint ein Geschenk von      
  20 dieser Art demjenigen gleich zu sein, womit Juno den Tiresias beehrte,      
  21 die ihn zuvor blind machte, damit sie ihm die Gabe zu weissagen ertheilen      
  22 könnte. Denn nach den obigen Sätzen zu urtheilen, kann die anschauende      
  23 Kenntniß der andern Welt allhier nur erlangt werden, indem man etwas      
  24 von demjenigen Verstande einbüßt, welchen man für die gegenwärtige      
  25 nöthig hat. Ich weiß auch nicht, ob selbst gewisse Philosophen gänzlich      
  26 von dieser harten Bedingung frei sein sollten, welche so fleißig und vertieft      
  27 ihre metaphysische Gläser nach jenen entlegenen Gegenden hinrichten      
  28 und Wunderdinge von daher zu erzählen wissen, zum wenigsten mißgönne      
  29 ich ihnen keine von ihren Entdeckungen; nur besorge ich: daß ihnen irgend      
  30 ein Mann von gutem Verstande und wenig Feinigkeit eben dasselbe dürfte      
  31 zu verstehen geben, was dem Tycho de Brahe sein Kutscher antwortete,      
  32 als jener meinte zur Nachtzeit nach den Sternen den kürzesten Weg fahren      
  33 zu können: Guter Herr, auf den Himmel mögt ihr euch wohl verstehen,      
  34 hier aber auf der Erde seid ihr ein Narr.      
           
           
     

[ Seite 340 ] [ Seite 342 ] [ Inhaltsverzeichnis ]