Kant: AA II, Träume eines Geistersehers, ... , Seite 346

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Wenn man dieses einräumt, so dünkt mich, daß ich über diejenige      
  02 Art von Störung des Gemüths, die man den Wahnsinn und im höhern      
  03 Grade die Verrückung nennt, etwas Begreifliches zur Ursache anführen      
  04 könne. Das Eigenthümliche dieser Krankheit besteht darin: daß der verworrene      
  05 Mensch bloße Gegenstände seiner Einbildung außer sich versetzt      
  06 und als wirklich vor ihm gegenwärtige Dinge ansieht. Nun habe ich gesagt:      
  07 daß nach der gewöhnlichen Ordnung die Directionslinien der Bewegung,      
  08 die in dem Gehirne als materielle Hülfsmittel die Phantasie begleiten,      
  09 sich innerhalb demselben durchschneiden müssen, und mithin der      
  10 Ort, darin er sich seines Bildes bewußt ist, zur Zeit des Wachens in ihm      
  11 selbst gedacht werde. Wenn ich also setze, daß durch irgend einen Zufall      
  12 oder Krankheit gewisse Organen des Gehirnes so verzogen und aus ihrem      
  13 gehörigen Gleichgewicht gebracht seien, daß die Bewegung der Nerven,      
  14 die mit einigen Phantasien harmonisch beben, nach solchen Richtungslinien      
  15 geschieht, welche fortgezogen sich außerhalb dem Gehirne durchkreuzen      
  16 würden, so ist der focus imaginarius außerhalb dem denkenden      
  17 Subject gesetzt,*) und das Bild, welches ein Werk der bloßen Einbildung      
  18 ist, wird als ein Gegenstand vorgestellt, der den äußeren Sinnen gegenwärtig      
  19 wäre. Die Bestürzung über die vermeinte Erscheinung einer Sache,      
  20 die nach der natürlichen Ordnung nicht zugegen sein sollte, wird, obschon      
  21 auch anfangs ein solches Schattenbild der Phantasie nur schwach wäre,      
  22 bald die Aufmerksamkeit rege machen und der Scheinempfindung eine so      
  23 große Lebhaftigkeit geben, die den betrogenen Menschen an der Wahrhaftigkeit      
           
    *) Man könnte als eine entfernte Ähnlichkeit mit dem angeführten Zufalle die Beschaffenheit der Trunkenen anführen, die in diesem Zustande mit beiden Augen doppelt sehen: darum weil durch die Anschwellung der Blutgefäße eine Hinderni entspringt, die Augenachsen so zu richten, daß ihre verlängerte Linien sich im Punkte, worin das Object ist, schneiden. Eben so mag die Verziehung der Hirngefäße, die vielleicht nur vorübergehend ist und, so lange sie dauert, nur einige Nerven betrifft, dazu dienen, daß gewisse Bilder der Phantasie selbst im Wachen als außer uns erscheinen. Eine sehr gemeine Erfahrung kann mit dieser Täuschung verglichen werden. Wenn man nach vollbrachtem Schlafe mit einer Gemächlichkeit, die einem Schlummer nahe kommt, und gleichsam mit gebrochnen Augen die mancherlei Fäden der Bettvorhänge oder des Bezuges oder die kleinen Flecken einer nahen Wand ansieht, so macht man sich daraus leichtlich Figuren von Menschengesichtern und dergleichen. Das Blendwerk hört auf, so bald man will und die Aufmerksamkeit anstrengt. Hier ist die Versetzung des foci imaginarii der Phantasien der Willkür einigermaßen unterworfen, da sie bei der Verrückung durch keine Willkür kann gehindert werden.      
           
     

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