Kant: AA II, Träume eines Geistersehers, ... , Seite 347

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 nicht zweifeln läßt. Dieser Betrug kann einen jeden äußeren Sinn      
  02 betreffen, denn von jeglichem haben wir copirte Bilder in der Einbildung,      
  03 und die Verrückung des Nervengewebes kann die Ursache werden, den      
  04 focum imaginarium dahin zu versetzen, von wo der sinnliche Eindruck      
  05 eines wirklich vorhandenen körperlichen Gegenstandes kommen würde. Es      
  06 ist alsdann kein Wunder, wenn der Phantast manches sehr deutlich zu      
  07 sehen oder zu hören glaubt, was niemand außer ihm wahrnimmt, imgleichen      
  08 wenn diese Hirngespenster ihm erscheinen und plötzlich verschwinden,      
  09 oder indem sie etwa einem Sinne, z. E. dem Gesichte, vorgaukeln,      
  10 durch keinen andern, wie z. E. das Gefühl, können empfunden werden und      
  11 daher durchdringlich scheinen. Die gemeine Geistererzählungen laufen so      
  12 sehr auf dergleichen Bestimmungen hinaus, daß sie den Verdacht ungemein      
  13 rechtfertigen, sie könnten wohl aus einer solchen Quelle entsprungen      
  14 sein. Und so ist auch der gangbare Begriff von geistigen Wesen, den      
  15 wir oben aus dem gemeinen Redegebrauche herauswickelten, dieser Täuschung      
  16 sehr gemäß und verläugnet seinen Ursprung nicht: weil die Eigenschaft      
  17 einer durchdringlichen Gegenwart im Raume das wesentliche Merkmal      
  18 dieses Begriffes ausmachen soll.      
           
  19 Es ist auch sehr wahrscheinlich, daß die Erziehungsbegriffe von      
  20 Geistergestalten dem kranken Kopfe die Materialien zu den täuschenden      
  21 Einbildungen geben, und daß ein von allen solchen Vorurtheilen leeres      
  22 Gehirn, wenn ihm gleich eine Verkehrtheit anwandelte, wohl nicht so leicht      
  23 Bilder von solcher Art aushecken würde. Ferner sieht man daraus auch,      
  24 daß, da die Krankheit des Phantasten nicht eigentlich den Verstand, sondern      
  25 die Täuschung der Sinne betrifft, der Unglückliche seine Blendwerke      
  26 durch kein Vernünfteln heben könne: weil die wahre oder scheinbare Empfindung      
  27 der Sinne selbst von allem Urtheil des Verstandes vorhergeht      
  28 und eine unmittelbare Evidenz hat, die alle andre Überredung weit übertrifft.      
           
  30 Die Folge, die sich aus diesen Betrachtungen ergiebt, hat dieses Ungelegene      
  31 an sich, daß sie die tiefe Vermuthungen des vorigen Hauptstücks      
  32 ganz entbehrlich macht, und daß der Leser, so bereitwillig er auch sein      
  33 mochte, den idealischen Entwürfen desselben einigen Beifall einzuräumen,      
  34 dennoch den Begriff vorziehen wird, welcher mehr Gemächlichkeit und      
  35 Kürze im Entscheiden bei sich führt und sich einen allgemeineren Beifall      
  36 versprechen kann. Denn außer dem, daß es einer vernünftigen Denkungsart      
  37 gemäßer zu sein scheint, die Gründe der Erklärung aus dem Stoffe      
           
     

[ Seite 346 ] [ Seite 348 ] [ Inhaltsverzeichnis ]