Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 240

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
B.
     
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Vom logischen Gebrauche der Vernunft.
     
           
  03 Man macht einen Unterschied zwischen dem, was unmittelbar erkannt,      
  04 und dem, was nur geschlossen wird. Daß in einer Figur, die durch      
  05 drei gerade Linien begrenzt ist, drei Winkel sind, wird unmittelbar erkannt;      
  06 daß diese Winkel aber zusammen zwei rechten gleich sind, ist nur geschlossen.      
  07 Weil wir des Schließens beständig bedürfen, und es dadurch      
  08 endlich ganz gewohnt werden, so bemerken wir zuletzt diesen Unterschied      
  09 nicht mehr und halten oft, wie bei dem sogenannten Betruge der Sinne,      
  10 etwas für unmittelbar wahrgenommen, was wir doch nur geschlossen haben.      
  11 Bei jedem Schlusse ist ein Satz, der zum Grunde liegt, und ein      
  12 anderer, nämlich die Folgerung, die aus jenem gezogen wird, und endlich      
  13 die Schlußfolge (Consequenz), nach welcher die Wahrheit des letzteren      
  14 unausbleiblich mit der Wahrheit des ersteren verknüpft ist. Liegt das      
  15 geschlossene Urtheil schon so in dem ersten, daß es ohne Vermittelung einer      
  16 dritten Vorstellung daraus abgeleitet werden kann, so heißt der Schluß      
  17 unmittelbar ( consequentia immediata ); ich möchte ihn lieber den Verstandesschluß      
  18 nennen. Ist aber außer der zum Grunde gelegten Erkenntniß      
  19 noch ein anderes Urtheil nöthig, um die Folge zu bewirken, so heißt      
  20 der Schluß ein Vernunftschluß. In dem Satze: alle Menschen sind      
  21 sterblich, liegen schon die Sätze: einige Menschen sind sterblich, einige      
  22 Sterbliche sind Menschen, nichts, was unsterblich ist, ist ein Mensch, und      
  23 diese sind also unmittelbare Folgerungen aus dem ersteren. Dagegen      
  24 liegt der Satz: alle Gelehrte sind sterblich, nicht in dem untergelegten Urtheile      
  25 (denn der Begriff der Gelehrten kommt in ihm gar nicht vor), und      
  26 er kann nur vermittelst eines Zwischenurtheils aus diesem gefolgert werden.      
           
  27 In jedem Vernunftschlusse denke ich zuerst eine Regel ( major ) durch      
  28 den Verstand. Zweitens subsumire ich ein Erkenntniß unter die Bedingung      
  29 der Regel ( minor ) vermittelst der Urtheilskraft. Endlich bestimme      
  30 ich mein Erkenntniß durch das Prädicat der Regel ( conclusio ),      
  31 mithin a priori durch die Vernunft. Das Verhältniß also, welches der      
  32 Obersatz als die Regel zwischen einer Erkenntniß und ihrer Bedingung      
  33 vorstellt, macht die verschiedenen Arten der Vernunftschlüsse aus. Sie      
           
     

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