Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 121

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Ungeheuer aufdringen, und es wäre eben so gut, gar keine zu haben, als      
  02 sie auf solche Weise allen Träumereien preiszugeben. Allein wenn reine      
  03 Vernunft für sich praktisch sein kann und es wirklich ist, wie das Bewußtsein      
  04 des moralischen Gesetzes es ausweiset, so ist es doch immer nur eine      
  05 und dieselbe Vernunft, die, es sei in theoretischer oder praktischer Absicht,      
  06 nach Principien a priori urtheilt, und da ist es klar, daß, wenn ihr Vermögen      
  07 in der ersteren gleich nicht zulangt, gewisse Sätze behauptend festzusetzen,      
  08 indessen daß sie ihr auch eben nicht widersprechen, eben diese      
  09 Sätze, so bald sie unabtrennlich zum praktischen Interesse der reinen      
  10 Vernunft gehören, zwar als ein ihr fremdes Angebot, das nicht auf ihrem      
  11 Boden erwachsen, aber doch hinreichend beglaubigt ist, annehmen und sie      
  12 mit allem, was sie als speculative Vernunft in ihrer Macht hat, zu vergleichen      
  13 und zu verknüpfen suchen müsse; doch sich bescheidend, daß dieses      
  14 nicht ihre Einsichten, aber doch Erweiterungen ihres Gebrauchs in irgend      
  15 einer anderen, nämlich praktischen, Absicht sind, welches ihrem Interesse,      
  16 das in der Einschränkung des speculativen Frevels besteht, ganz und gar      
  17 nicht zuwider ist.      
           
  18 In der Verbindung also der reinen speculativen mit der reinen praktischen      
  19 Vernunft zu einem Erkenntnisse führt die letztere das Primat,      
  20 vorausgesetzt nämlich, daß diese Verbindung nicht etwa zufällig und      
  21 beliebig, sondern a priori auf der Vernunft selbst gegründet, mithin nothwendig      
  22 sei. Denn es würde ohne diese Unterordnung ein Widerstreit      
  23 der Vernunft mit ihr selbst entstehen: weil, wenn sie einander blos beigeordnet      
  24 (coordinirt) wären, die erstere für sich ihre Grenze enge verschließen      
  25 und nichts von der letzteren in ihr Gebiet aufnehmen, diese aber ihre      
  26 Grenzen dennoch über alles ausdehnen und, wo es ihr Bedürfniß erheischt,      
  27 jene innerhalb der ihrigen mit zu befassen suchen würde. Der speculativen      
  28 Vernunft aber untergeordnet zu sein und also die Ordnung umzukehren,      
  29 kann man der reinen praktischen gar nicht zumuthen, weil alles Interesse      
  30 zuletzt praktisch ist, und selbst das der speculativen Vernunft nur bedingt      
  31 und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist.      
           
           
     

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