Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 123

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 und sich in schwärmende, dem Selbsterkenntniß ganz widersprechende      
  02 theosophische Träume verliert, durch welches beides das unaufhörliche      
  03 Streben zur pünktlichen und durchgängigen Befolgung eines strengen,      
  04 unnachsichtlichen, dennoch aber nicht idealischen, sondern wahren Vernunftgebots      
  05 nur verhindert wird. Einem vernünftigen, aber endlichen Wesen ist      
  06 nur der Progressus ins Unendliche von niederen zu höheren Stufen der      
  07 moralischen Vollkommenheit möglich. Der Unendliche, dem die Zeitbedingung      
  08 Nichts ist, sieht in dieser für uns endlosen Reihe das Ganze der      
  09 Angemessenheit mit dem moralischen Gesetze, und die Heiligkeit, die sein      
  10 Gebot unnachlaßlich fordert, um seiner Gerechtigkeit in dem Antheil, den      
  11 er jedem am höchsten Gute bestimmt, gemäß zu sein, ist in einer einzigen      
  12 intellectuellen Anschauung des Daseins vernünftiger Wesen ganz anzutreffen.      
  13 Was dem Geschöpfe allein in Ansehung der Hoffnung dieses Antheils      
  14 zukommen kann, wäre das Bewußtsein seiner erprüften Gesinnung,      
  15 um aus seinem bisherigen Fortschritte vom Schlechteren zum moralisch      
  16 Besseren und dem dadurch ihm bekannt gewordenen unwandelbaren Vorsatze      
  17 eine fernere ununterbrochene Fortsetzung desselben, wie weit seine Existenz      
  18 auch immer reichen mag, selbst über dieses Leben hinaus zu hoffen*)      
  19 und so zwar niemals hier, oder in irgend einem absehlichen künftigen      
  20 Zeitpunkte seines Daseins, sondern nur in der (Gott allein übersehbaren)      
           
    *)Die Überzeugung von der Unwandelbarkeit seiner Gesinnung im Fortschritte zum Guten scheint gleichwohl auch einem Geschöpfe für sich unmöglich zu sein. Um deswillen läßt die christliche Religionslehre sie auch von demselben Geiste, der die Heilung, d. i. diesen festen Vorsatz und mit ihm das Bewußtsein der Beharrlichkeit im moralischen Progressus, wirkt, allein abstammen. Aber auch natürlicher Weise darf derjenige, der sich bewußt ist, einen langen Theil seines Lebens bis zu Ende desselben im Fortschritte zum Bessern, und zwar aus ächten moralischen Bewegungsgründen angehalten zu haben, sich wohl die tröstende Hoffnung, wenn gleich nicht Gewißheit, machen, daß er auch in einer über dieses Leben hinaus fortgesetzten Existenz bei diesen Grundsätzen beharren werde, und wiewohl er in seinen eigenen Augen hier nie gerechtfertigt ist, noch bei dem verhofften künftigen Anwachs seiner Naturvollkommenheit, mit ihr aber auch seiner Pflichten es jemals hoffen darf, dennoch in diesem Fortschritte, der, ob er zwar ein ins Unendliche hinausgerücktes Ziel betrifft, dennoch für Gott als Besitz gilt, eine Aussicht in eine selige Zukunft haben; denn dieses ist der Ausdruck, dessen sich die Vernunft bedient, um ein von allen zufälligen Ursachen der Welt unabhängiges vollständiges Wohl zu bezeichnen, welches eben so wie Heiligkeit eine Idee ist, welche nur in einem unendlichen Progressus und dessen Totalität enthalten sein kann, mithin vom Geschöpfe niemals völlig erreicht wird.      
           
     

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