Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 328

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Nach der Dichtkunst würde ich, wenn es um Reiz und Bewegung      
  02 des Gemüths zu thun ist, diejenige, welche ihr unter den redenden am      
  03 nächsten kommt und sich damit auch sehr natürlich vereinigen läßt, nämlich      
  04 die Tonkunst, setzen. Denn ob sie zwar durch lauter Empfindungen      
  05 ohne Begriffe spricht, mithin nicht wie die Poesie etwas zum Nachdenken      
  06 übrig bleiben läßt, so bewegt sie doch das Gemüth mannigfaltiger und,      
  07 obgleich bloß vorübergehend, doch inniglicher; ist aber freilich mehr Genu      
  08 als Cultur (das Gedankenspiel, was nebenbei dadurch erregt wird, ist      
  09 bloß die Wirkung einer gleichsam mechanischen Association); und hat,      
  10 durch Vernunft beurtheilt, weniger Werth, als jede andere der schönen      
  11 Künste. Daher verlangt sie wie jeder Genuß öftern Wechsel und hält      
  12 die mehrmalige Wiederholung nicht aus, ohne Überdruß zu erzeugen.      
  13 Der Reiz derselben, der sich so allgemein mittheilen läßt, scheint darauf      
  14 zu beruhen: daß jeder Ausdruck der Sprache im Zusammenhange einen      
  15 Ton hat, der dem Sinne desselben angemessen ist; daß dieser Ton mehr      
  16 oder weniger einen Affect des Sprechenden bezeichnet und gegenseitig      
  17 auch im Hörenden hervorbringt, der denn in diesem umgekehrt auch die      
  18 Idee erregt, die in der Sprache mit solchem Tone ausgedrückt wird; und      
  19 daß, so wie die Modulation gleichsam eine allgemeine jedem Menschen      
  20 verständliche Sprache der Empfindungen ist, die Tonkunst diese für sich      
  21 allein in ihrem ganzen Nachdrucke, nämlich als Sprache der Affecten, ausübt      
  22 und so nach dem Gesetze der Association die damit natürlicher Weise      
  23 verbundenen ästhetischen Ideen allgemein mittheilt; daß aber, weil jene      
           
     

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