Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 329

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 ästhetischen Ideen keine Begriffe und bestimmte Gedanken sind, die Form      
  02 der Zusammensetzung dieser Empfindungen (Harmonie und Melodie) nur      
  03 statt der Form einer Sprache dazu dient, vermittelst einer proportionirten      
  04 Stimmung derselben (welche, weil sie bei Tönen auf dem Verhältniß der      
  05 Zahl der Luftbebungen in derselben Zeit, sofern die Töne zugleich oder      
  06 auch nach einander verbunden werden, beruht, mathematisch unter gewisse      
  07 Regeln gebracht werden kann) die ästhetische Idee eines zusammenhängenden      
  08 Ganzen einer unnennbaren Gedankenfülle einem gewissen Thema gemäß,      
  09 welches den in dem Stücke herrschenden Affect ausmacht, auszudrücken.      
  10 An dieser mathematischen Form, obgleich nicht durch bestimmte      
  11 Begriffe vorgestellt, hängt allein das Wohlgefallen, welches die bloße Reflexion      
  12 über eine solche Menge einander begleitender oder folgender Empfindungen      
  13 mit diesem Spiele derselben als für jedermann gültige Bedingung      
  14 seiner Schönheit verknüpft; und sie ist es allein, nach welcher der      
  15 Geschmack sich ein Recht über das Urtheil von jedermann zum voraus      
  16 auszusprechen anmaßen darf.      
           
  17 Aber an dem Reize und der Gemüthsbewegung, welche die Musik      
  18 hervorbringt, hat die Mathematik sicherlich nicht den mindesten Antheil;      
  19 sondern sie ist nur die unumgängliche Bedingung ( conditio sine qua non )      
  20 derjenigen Proportion der Eindrücke in ihrer Verbindung sowohl als      
  21 ihrem Wechsel, wodurch es möglich wird sie zusammen zu fassen und zu      
  22 verhindern, daß diese einander nicht zerstören, sondern zu einer continuirlichen      
  23 Bewegung und Belebung des Gemüths durch damit consonirende      
  24 Affecten und hiemit zu einem behaglichen Selbstgenusse zusammenstimmen.      
           
  25 Wenn man dagegen den Werth der schönen Künste nach der Cultur      
  26 schätzt, die sie dem Gemüth verschaffen, und die Erweiterung der Vermögen,      
  27 welche in der Urtheilskraft zum Erkenntnisse zusammen kommen      
  28 müssen, zum Maßstabe nimmt: so hat Musik unter den schönen Künsten      
  29 sofern den untersten (so wie unter denen, die zugleich nach ihrer Annehmlichkeit      
  30 geschätzt werden, vielleicht den obersten) Platz, weil sie bloß mit      
  31 Empfindungen spielt. Die bildenden Künste gehen ihr also in diesem      
  32 Betracht weit vor; denn indem sie die Einbildungskraft in ein freies und      
  33 doch zugleich dem Verstande angemessenes Spiel versetzen, so treiben sie      
  34 zugleich ein Geschäft, indem sie ein Product zu Stande bringen, welches      
  35 den Verstandesbegriffen zu einem dauerhaften und für sie selbst sich empfehlenden      
  36 Vehikel dient, die Vereinigung derselben mit der Sinnlichkeit      
  37 und so gleichsam die Urbanität der obern Erkenntnißkräfte zu befördern.      
           
     

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