Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 371

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 denn hierin liegt eine Causalität, dergleichen mit dem bloßen Begriffe      
  02 einer Natur, ohne ihr einen Zweck unterzulegen, nicht verbunden, aber      
  03 auch alsdann zwar ohne Widerspruch gedacht, aber nicht Begriffen werden      
  04 kann. Wir wollen die Bestimmung dieser Idee von einem Naturzwecke      
  05 zuvörderst durch ein Beispiel erläutern, ehe wir sie völlig auseinander      
  06 setzen.      
           
  07 Ein Baum zeugt erstlich einen andern Baum nach einem bekannten      
  08 Naturgesetze. Der Baum aber, den er erzeugt, ist von derselben Gattung;      
  09 und so erzeugt er sich selbst der Gattung nach, in der er einerseits als      
  10 Wirkung, andrerseits als Ursache, von sich selbst unaufhörlich hervorgebracht      
  11 und eben so sich selbst oft hervorbringend, sich als Gattung beständig      
  12 erhält.      
           
  13 Zweitens erzeugt ein Baum sich auch selbst als Individuum.      
  14 Diese Art von Wirkung nennen wir zwar nur das Wachsthum; aber      
  15 dieses ist in solchem Sinne zu nehmen, daß es von jeder andern Größenzunahme      
  16 nach mechanischen Gesetzen gänzlich unterschieden und einer      
  17 Zeugung, wiewohl unter einem andern Namen, gleich zu achten ist. Die      
  18 Materie, die er zu sich hinzusetzt, verarbeitet dieses Gewächs vorher zu      
  19 specifisch=eigenthümlicher Qualität, welche der Naturmechanism außer ihm      
  20 nicht liefern kann, und bildet sich selbst weiter aus vermittelst eines      
  21 Stoffes, der seiner Mischung nach sein eignes Product ist. Denn ob er zwar,      
  22 was die Bestandtheile betrifft, die er von der Natur außer ihm erhält,      
  23 nur als Educt angesehen werden muß: so ist doch in der Scheidung und      
  24 neuen Zusammensetzung dieses rohen Stoffs eine solche Originalität des      
  25 Scheidungs= und Bildungsvermögens dieser Art Naturwesen anzutreffen,      
  26 daß alle Kunst davon unendlich weit entfernt bleibt, wenn sie es versucht,      
  27 aus den Elementen, die sie durch Zergliederung derselben erhält, oder auch      
  28 dem Stoff, den die Natur zur Nahrung derselben liefert, jene Producte      
  29 des Gewächsreichs wieder herzustellen.      
           
  30 Drittens erzeugt ein Theil dieses Geschöpfs auch sich selbst so: daß      
  31 die Erhaltung des einen von der Erhaltung der andern wechselsweise      
  32 abhängt. Das Auge an einem Baumblatt, dem Zweige eines andern eingeimpft,      
  33 bringt an einem fremdartigen Stocke ein Gewächs von seiner      
  34 eignen Art hervor und eben so das Pfropfreis auf einem andern Stamme.      
  35 Daher kann man auch an demselben Baume jeden Zweig oder Blatt als      
  36 bloß auf diesem gepfropft oder oculirt, mithin als einen für sich selbst bestehenden      
  37 Baum, der sich nur an einen andern anhängt und parasitisch      
           
     

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