Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 061

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 seiner Gesinnungen können wir hoffen "Kinder Gottes zu werden";      
  02 u. s. w..      
           
  03 Zu diesem Ideal der moralischen Vollkommenheit, d. i. dem Urbilde      
  04 der sittlichen Gesinnung in ihrer ganzen Lauterkeit, uns zu erheben, ist      
  05 nun allgemeine Menschenpflicht, wozu uns auch diese Idee selbst, welche      
  06 von der Vernunft uns zur Nachstrebung vorgelegt wird, Kraft geben      
  07 kann. Eben darum aber, weil wir von ihr nicht die Urheber sind, sondern      
  08 sie in dem Menschen Platz genommen hat, ohne daß wir begreifen,      
  09 wie die menschliche Natur für sie auch nur habe empfänglich sein können,      
  10 kann man besser sagen: daß jenes Urbild vom Himmel zu uns herabgekommen      
  11 sei, daß es die Menschheit angenommen habe (denn es ist nicht      
  12 eben sowohl möglich, sich vorzustellen, wie der von Natur böse Mensch      
  13 das Böse von selbst ablege und sich zum Ideal der Heiligkeit erhebe, als      
  14 daß das Letztere die Menschheit (die für sich nicht böse ist) annehme und      
  15 sich zu ihr herablasse). Diese Vereinigung mit uns kann also als ein      
  16 Stand der Erniedrigung des Sohnes Gottes angesehen werden, wenn      
  17 wir uns jenen göttlich gesinnten Menschen als Urbild für uns so vorstellen,      
  18 wie er, obzwar selbst heilig und als solcher zu keiner Erduldung      
  19 von Leiden verhaftet, diese gleichwohl im größten Maße übernimmt, um      
  20 das Weltbeste zu befördern; dagegen der Mensch, der nie von Schuld frei      
  21 ist, wenn er auch dieselbe Gesinnung angenommen hat, die Leiden, die      
  22 ihn, auf welchem Wege es auch sei, treffen mögen, doch als von ihm verschuldet      
  23 ansehen kann, mithin sich der Vereinigung seiner Gesinnung mit      
  24 einer solchen Idee, obzwar sie ihm zum Urbilde dient, unwürdig halten muß.      
           
  25 Das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit (mithin einer moralischen      
  26 Vollkommenheit, so wie sie an einem von Bedürfnissen und Neigungen      
  27 abhängigen Weltwesen möglich ist) können wir uns nun nicht anders      
  28 denken, als unter der Idee eines Menschen, der nicht allein alle Menschenpflicht      
  29 selbst auszuüben, zugleich auch durch Lehre und Beispiel das Gute      
  30 in größtmöglichem Umfange um sich auszubreiten, sondern auch, obgleich      
  31 durch die größten Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum      
  32 schmählichsten Tode um des Weltbesten willen und selbst für seine Feinde      
  33 zu übernehmen bereitwillig wäre. - Denn der Mensch kann sich keinen      
  34 Begriff von dem Grade und der Stärke einer Kraft, dergleichen die einer      
  35 moralischen Gesinnung ist, machen, als wenn er sie mit Hindernissen ringend      
  36 und unter den größtmöglichen Anfechtungen dennoch überwindend      
  37 sich vorstellt.      
           
           
     

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