Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 085

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 werden muß. Es mag also sein, daß die Person des Lehrers der      
  02 alleinigen für alle Welten gültigen Religion ein Geheimniß, daß seine Erscheinung      
  03 auf Erden, so wie seine Entrückung von derselben, daß sein      
  04 thatenvolles Leben und Leiden lauter Wunder, ja gar, daß die Geschichte,      
  05 welche die Erzählung aller jener Wunder beglaubigen soll, selbst auch ein      
  06 Wunder (übernatürliche Offenbarung) sei: so können wir sie insgesammt      
  07 auf ihrem Werthe beruhen lassen, ja auch die Hülle noch ehren, welche gedient      
  08 hat, eine Lehre, deren Beglaubigung auf einer Urkunde beruht, die      
  09 unauslöschlich in jeder Seele aufbehalten ist und keiner Wunder bedarf,      
  10 öffentlich in Gang zu bringen; wenn wir nur, den Gebrauch dieser historischen      
  11 Nachrichten betreffend, es nicht zum Religionsstücke machen, daß      
  12 das Wissen, Glauben und Bekennen derselben für sich etwas sei, wodurch      
  13 wir uns Gott wohlgefällig machen können.      
           
  14 Was aber Wunder überhaupt betrifft, so findet sich, daß vernünftige      
  15 Menschen den Glauben an dieselbe, dem sie gleichwohl nicht zu entsagen      
  16 gemeint sind, doch niemals wollen praktisch aufkommen lassen; welches so      
  17 viel sagen will als: sie glauben zwar, was die Theorie betrifft, daß es      
  18 dergleichen gebe, in Geschäften aber statuiren sie keine. Daher haben      
  19 weise Regierungen jederzeit zwar eingeräumt, ja wohl gar unter die öffentlichen      
  20 Religionslehren die Meinung gesetzlich aufgenommen, daß vor Alters      
  21 Wunder geschehen wären, neue Wunder aber nicht erlaubt.*) Denn      
           
    *) selbst Religionslehrer, die ihre Glaubensartikel an die Autorität der Regierung anschließen (Orthodoxe), befolgen hierin mit der letzteren die nämliche Maxime. Daher Hr. Pfenninger, da er seinen Freund, Herrn Lavater, wegen seiner Behauptung eines noch immer möglichen Wunderglaubens vertheidigte, ihnen mit Recht Inconsequenz vorwarf, daß sie (denn die in diesem Punkt naturalistisch Denkende nahm er ausdrücklich aus), da sie doch die vor etwa siebzehn Jahrhunderten in der christlichen Gemeinde wirklich gewesenen Wunderthäter behaupteten, jetzt keine mehr statuiren wollten, ohne doch aus der Schrift beweisen zu können, daß und wenn sie einmal gänzlich aufhören sollten (denn die Vernünftelei, daß sie jetzt nicht mehr nöthig seien, ist Anmaßung größerer Einsicht, als ein Mensch sich wohl zutrauen soll), und diesen Beweis sind sie ihm schuldig geblieben. Es war also nur Maxime der Vernunft, sie jetzt nicht einzuräumen und zu erlauben, nicht objective Einsicht, es gebe keine. Gilt aber dieselbe Maxime, die für diesmal auf den besorglichen Unfug im bürgerlichen Wesen zurücksieht, nicht auch für die Befürchtung eines ähnlichen Unfugs im philosophirenden und überhaupt vernünftig nachdenkenden gemeinen Wesen? - Die, so zwar große (Aufsehen machende) Wunder nicht einräumen, aber kleine unter dem Namen einer außerordentlichen Direction freigebig erlauben (weil [Seitenumbruch] die letzteren als bloße Lenkung nur wenig Kraftanwendung der übernatürlichen Ursache erfordern), bedenken nicht, daß es hiebei nicht auf die Wirkung und deren Größe, sondern auf die Form des Weltlaufs, d. i. auf die Art, wie jene geschehe, ob natürlich, oder übernatürlich, ankomme, und daß für Gott kein Unterschied des Leichten und Schweren zu denken sei. Was aber das Geheime der übernatürlichen Einflüsse betrifft: so ist eine solche absichtliche Verbergung der Wichtigkeit einer Begebenheit dieser Art noch weniger angemessen.      
           
     

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