Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 101

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 muß vielmehr so verfahren, als ob alles auf ihn ankomme, und nur unter      
  02 dieser Bedingung darf er hoffen, daß höhere Weisheit seiner wohlgemeinten      
  03 Bemühung die Vollendung werde angedeihen lassen.      
           
  04 Der Wunsch aller Wohlgesinnten ist also: "daß das Reich Gottes      
  05 komme, daß sein Wille auf Erden geschehe"; aber was haben sie nun zu      
  06 veranstalten, damit dieses mit ihnen geschehe?      
           
  07 Ein ethisches gemeines Wesen unter der göttlichen moralischen Gesetzgebung      
  08 ist eine Kirche, welche, so fern sie kein Gegenstand möglicher Erfahrung      
  09 ist, die unsichtbare Kirche heißt (eine bloße Idee von der Vereinigung      
  10 aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren, aber      
  11 moralischen Weltregierung, wie sie jeder von Menschen zu stiftenden zum      
  12 Urbilde dient). Die sichtbare ist die wirkliche Vereinigung der Menschen      
  13 zu einem Ganzen, das mit jenem Ideal zusammenstimmt. So fern eine      
  14 jede Gesellschaft unter öffentlichen Gesetzen eine Unterordnung ihrer Glieder      
  15 (in Verhältniß derer, die den Gesetzen derselben gehorchen, zu denen,      
  16 welche auf die Beobachtung derselben halten) bei sich führt, ist die zu      
  17 jenem Ganzen (der Kirche) vereinigte Menge die Gemeinde unter ihren      
  18 Obern, welche (Lehrer oder auch Seelenhirten genannt) nur die Geschäfte      
  19 des unsichtbaren Oberhaupts derselben verwalten und in dieser Beziehung      
  20 insgesammt Diener der Kirche heißen, so wie im politischen Gemeinwesen      
  21 das sichtbare Oberhaupt sich selbst bisweilen den obersten Diener des      
  22 Staats nennt, ob er zwar keinen einzigen Menschen (gemeiniglich auch      
  23 nicht einmal das Volksganze selbst) über sich erkennt. Die wahre (sichtbare)      
  24 Kirche ist diejenige, welche das (moralische) Reich Gottes auf Erden,      
  25 so viel es durch Menschen geschehen kann, darstellt. Die Erfordernisse, mithin      
  26 auch die Kennzeichen der wahren Kirche sind folgende:      
           
  27 1. Die Allgemeinheit, folglich numerische Einheit derselben; wozu      
  28 sie die Anlage in sich enthalten muß: daß nämlich, ob sie zwar in      
  29 zufällige Meinungen getheilt und uneins, doch in Ansehung der      
  30 wesentlichen Absicht auf solche Grundsätze errichtet ist, welche sie      
  31 nothwendig zur allgemeinen Vereinigung in eine einzige Kirche führen      
  32 müssen (also keine Sektenspaltung).      
           
  33 2. Die Beschaffenheit (Qualität) derselben; d. i. die Lauterkeit,      
  34 die Vereinigung unter keinen andern als moralischen Triebfedern      
  35 (gereinigt vom Blödsinn des Aberglaubens und dem Wahnsinn der      
  36 Schwärmerei).      
           
           
     

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