Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 108

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Kirchen dennoch eine und dieselbe wahre Religion anzutreffen      
  02 sein kann.      
           
  03 Es ist daher schicklicher (wie es auch wirklich mehr im Gebrauche ist),      
  04 zu sagen: dieser Mensch ist von diesem oder jenem (jüdischem, muhammedanischem,      
  05 christlichem, katholischem, lutherischem) Glauben, als: er ist von      
  06 dieser oder jener Religion. Der letztere Ausdruck sollte billig nicht einmal      
  07 in der Anrede an das große Publicum (in Katechismen und Predigten)      
  08 gebraucht werden; denn er ist diesem zu gelehrt und unverständlich,      
  09 wie denn auch die neuern Sprachen für ihn kein gleichbedeutendes Wort      
  10 liefern. Der gemeine Mann versteht darunter jederzeit seinen Kirchenglauben,      
  11 der ihm in die Sinne fällt, anstatt daß Religion innerlich verborgen      
  12 ist und auf moralische Gesinnungen ankommt. Man thut den      
  13 meisten zu viel Ehre an, von ihnen zu sagen: sie bekennen sich zu dieser      
  14 oder jener Religion; denn sie kennen und verlangen keine; der statutarische      
  15 Kirchenglaube ist alles, was sie unter diesem Worte verstehen. Auch      
  16 sind die sogenannten Religionsstreitigkeiten, welche die Welt so oft erschüttert      
  17 und mit Blut besprützt haben, nie etwas anders als Zänkereien      
  18 um den Kirchenglauben gewesen, und der Unterdrückte klagte nicht eigentlich      
  19 darüber, daß man ihn hinderte, seiner Religion anzuhängen (denn      
  20 das kann keine äußere Gewalt), sondern daß man ihm seinen Kirchenglauben      
  21 öffentlich zu befolgen nicht erlaubte.      
           
  22 Wenn nun eine Kirche sich selbst, wie gewöhnlich geschieht, für die      
  23 einige allgemeine ausgiebt (ob sie zwar auf einen besondern Offenbarungsglauben      
  24 gegründet ist, der als historisch nimmermehr von jedermann gefordert      
  25 werden kann): so wird der, welcher ihren (besondern) Kirchenglauben      
  26 gar nicht anerkennt, von ihr ein Ungläubiger genannt und von      
  27 ganzem Herzen gehaßt; der nur zum Theil (im Nichtwesentlichen) davon      
  28 abweicht, ein Irrgläubiger und wenigstens als ansteckend vermieden.      
  29 Bekennt er sich endlich zwar zu derselben Kirche, weicht aber doch im Wesentlichen      
  30 des Glaubens derselben (was man nämlich dazu macht) von ihr      
  31 ab, so heißt er, vornehmlich wenn er seinen Irrglauben ausbreitet, ein      
  32 Ketzer*) und wird so wie ein Aufrührer noch für strafbarer gehalten als      
           
    *) Die Mongolen nennen Tibet (nach Georgii Alphab. Tibet. pag. 11) Tangut Chazar,d. i. das Land der Häuserbewohner, um diese von sich als in Wüsten unter Zelten lebenden Nomaden zu unterscheiden, woraus der Name der Chazaren und aus diesem der der Ketzer entsprungen ist, weil jene dem tibetanischen Glauben (der Lamas), der mit dem Manichäism übereinstimmt, vielleicht auch wohl von [Seitenumbruch] daher seinen Ursprung nimmt, anhänglich waren und ihn bei ihren Einbrüchen in Europa verbreiteten; daher auch eine geraume Zeit hindurch die Namen Haeretici und Manichaei als gleichbedeutend im Gebrauch waren.      
           
     

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