Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 122

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 ohne sein Zuthun auferlegt worden, auch wohl Gelehrsamkeit, ja sogar      
  02 eine der Kirche dienstbare Philosophie zu verbinden; "nun er aber ein      
  03 Mann wird, legt er ab, was kindisch ist." Der erniedrigende Unterschied      
  04 zwischen Laien und Klerikern hört auf, und Gleichheit entspringt aus      
  05 der wahren Freiheit, jedoch ohne Anarchie, weil ein jeder zwar dem (nicht      
  06 statutarischen) Gesetz gehorcht, das er sich selbst vorschreibt, das er aber      
  07 auch zugleich als den ihm durch die Vernunft geoffenbarten Willen des      
  08 Weltherrschers ansehen muß, der alle unter einer gemeinschaftlichen Regierung      
  09 unsichtbarer Weise in einem Staate verbindet, welcher durch die      
  10 sichtbare Kirche vorher dürftig vorgestellt und vorbereitet war. - Das      
  11 alles ist nicht von einer äußeren Revolution zu erwarten, die stürmisch      
  12 und gewaltsam ihre von Glücksumständen sehr abhängige Wirkung thut,      
  13 in welcher, was bei der Gründung einer neuen Verfassung einmal versehen      
  14 worden, Jahrhunderte hindurch mit Bedauern beibehalten wird,      
  15 weil es nicht mehr, wenigstens nicht anders, als durch eine neue (jederzeit      
  16 gefährliche) Revolution abzuändern ist. - In dem Princip der reinen      
  17 Vernunftreligion, als einer an alle Menschen beständig geschehenden göttlichen      
  18 (obzwar nicht empirischen) Offenbarung, muß der Grund zu jenem      
  19 Überschritt zu jener neuen Ordnung der Dinge liegen, welcher, einmal aus      
  20 reifer Überlegung gefaßt, durch allmählig fortgehende Reform zur Ausführung      
  21 gebracht wird, so fern sie ein menschliches Werk sein soll; denn      
  22 was Revolutionen betrifft, die diesen Fortschritt abkürzen können, so bleiben      
  23 sie der Vorsehung überlassen und lassen sich nicht planmäßig der Freiheit      
  24 unbeschadet einleiten.      
           
  25 Man kann aber mit Grunde sagen: "daß das Reich Gottes zu uns      
  26 gekommen sei," wenn auch nur das Princip des allmähligen Überganges      
  27 des Kirchenglaubens zur allgemeinen Vernunftreligion und so zu einem      
  28 (göttlichen) ethischen Staat auf Erden allgemein und irgendwo auch      
  29 öffentlich Wurzel gefaßt hat: obgleich die wirkliche Errichtung desselben      
  30 noch in unendlicher Weite von uns entfernt liegt. Denn weil dieses Princip      
  31 den Grund einer continuirlichen Annäherung zu dieser Vollkommenheit      
  32 enthält, so liegt in ihm als in einem sich entwickelnden und in der      
  33 Folge wiederum besamenden Keime das Ganze (unsichtbarer Weise), welches      
  34 dereinst die Welt erleuchten und beherrschen soll. Das Wahre und      
  35 Gute aber, wozu in der Naturanlage jedes Menschen der Grund sowohl      
  36 der Einsicht als des Herzensantheils liegt, ermangelt nicht, wenn es einmal      
  37 öffentlich geworden, vermöge der natürlichen Affinität, in der es mit      
           
     

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