Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 174

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 des Tugendprincips von Menschen gethan werden kann, Natur,      
  02 was aber nur den Mangel alles seines moralischen Vermögens zu ergänzen      
  03 dient und, weil dessen Zulänglichkeit auch für uns Pflicht ist, nur      
  04 gewünscht oder auch gehofft und erbeten werden kann, Gnade zu nennen,      
  05 beide zusammen als wirkende Ursachen einer zum Gott wohlgefälligen      
  06 Lebenswandel zureichenden Gesinnung anzusehen, sie aber auch nicht bloß      
  07 von einander zu unterscheiden, sondern einander wohl gar entgegen zu      
  08 setzen.      
           
  09 Die Überredung, Wirkungen der Gnade von denen der Natur (der      
  10 Tugend) unterscheiden, oder sie wohl gar in sich hervorbringen zu können,      
  11 ist Schwärmerei; denn wir können weder einen übersinnlichen Gegenstand      
  12 in der Erfahrung irgend woran kennen, noch weniger auf ihn Einfluß      
  13 haben, um ihn zu uns herabzuziehen, wenn gleich sich im Gemüth      
  14 bisweilen aufs Moralische hinwirkende Bewegungen ereignen, die man      
  15 sich nicht erklären kann, und von denen unsere Unwissenheit zu gestehen      
  16 genöthigt ist: "Der Wind wehet, wohin er will, aber du weißt nicht, woher      
  17 er kömmt u. s. w.". Himmlische Einflüsse in sich wahrnehmen zu      
  18 wollen, ist eine Art Wahnsinn, in welchem wohl gar auch Methode sein      
  19 kann (weil sich jene vermeinte innere Offenbarungen doch immer an moralische,      
  20 mithin an Vernunftideen anschließen müssen), der aber immer      
  21 doch eine der Religion nachtheilige Selbsttäuschung bleibt. Zu glauben,      
  22 daß es Gnadenwirkungen geben könne und vielleicht zur Ergänzung der      
  23 Unvollkommenheit unserer Tugendbestrebung auch geben müsse, ist alles,      
  24 was wir davon sagen können; übrigens sind wir unvermögend, etwas in      
  25 Ansehung ihrer Kennzeichen zu bestimmen, noch mehr aber zur Hervorbringung      
  26 derselben etwas zu thun.      
           
  27 Der Wahn, durch religiöse Handlungen des Cultus etwas in Ansehung      
  28 der Rechtfertigung vor Gott auszurichten, ist der religiöse Aberglaube;      
  29 so wie der Wahn, dieses durch Bestrebung zu einem vermeintlichen      
  30 Umgange mit Gott bewirken zu wollen, die religiöse Schwärmerei.      
  31 - Es ist abergläubischer Wahn, durch Handlungen, die ein jeder Mensch      
  32 thun kann, ohne daß er eben ein guter Mensch sein darf, Gott wohlgefällig      
  33 werden zu wollen (z. B. durch Bekenntniß statutarischer Glaubenssätze,      
  34 durch Beobachtung kirchlicher Observanz und Zucht u. d. g.). Er wird      
  35 aber darum abergläubisch genannt, weil er sich bloße Naturmittel (nicht      
  36 moralische) wählt, die zu dem, was nicht Natur ist, (d. i. dem sittlich      
  37 Guten) für sich schlechterdings nichts wirken können. - Ein Wahn aber      
           
     

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