Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 222

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Folgende Begriffe sind der Metaphysik der Sitten in ihren beiden      
  02 Theilen gemein.      
           
  03 Verbindlichkeit ist die Nothwendigkeit einer freien Handlung unter      
  04 einem kategorischen Imperativ der Vernunft.      
           
  05 Der Imperativ ist eine praktische Regel, wodurch die an sich zufällige      
  06 Handlung nothwendig gemacht wird. Er unterscheidet sich      
  07 darin von einem praktischen Gesetze, daß dieses zwar die Nothwendigkeit      
  08 einer Handlung vorstellig macht, aber ohne Rücksicht darauf zu      
  09 nehmen, ob diese an sich schon dem handelnden Subjecte (etwa einem      
  10 heiligen Wesen) innerlich nothwendig beiwohne, oder (wie dem      
  11 Menschen) zufällig sei; denn wo das erstere ist, da findet kein Imperativ      
  12 statt. Also ist der Imperativ eine Regel, deren Vorstellung die      
  13 subjectiv=zufällige Handlung nothwendig macht, mithin das Subject      
  14 als ein solches, was zur Übereinstimmung mit dieser Regel genöthigt      
  15 (necessitirt) werden muß, vorstellt. - Der kategorische (unbedingte)      
  16 Imperativ ist derjenige, welcher nicht etwa mittelbar, durch      
  17 die Vorstellung eines Zwecks, der durch die Handlung erreicht werden      
  18 könne, sondern der sie durch die bloße Vorstellung dieser Handlung      
  19 selbst (ihrer Form), also unmittelbar, als objectiv=nothwendig      
  20 denkt und nothwendig macht; dergleichen Imperativen keine andere      
  21 praktische Lehre als allein die, welche Verbindlichkeit vorschreibt (die      
  22 der Sitten), zum Beispiele aufstellen kann. Alle andere Imperativen      
  23 sind technisch und insgesammt bedingt. Der Grund der Möglichkeit      
  24 kategorischer Imperativen liegt aber darin: daß sie sich auf keine      
  25 andere Bestimmung der Willkür (wodurch ihr eine Absicht untergelegt      
  26 werden kann), als lediglich auf die Freiheit derselben beziehen.      
           
  27 Erlaubt ist eine Handlung ( licitum ), die der Verbindlichkeit nicht      
  28 entgegen ist; und diese Freiheit, die durch keinen entgegengesetzten Imperativ      
  29 eingeschränkt wird, heißt die Befugniß ( facultas moralis ). Hieraus      
  30 versteht sich von selbst, was unerlaubt ( illicitum ) sei.      
           
  31 Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist.      
  32 Sie ist also die Materie der Verbindlichkeit, und es kann einerlei Pflicht      
  33 (der Handlung nach) sein, ob wir zwar auf verschiedene Art dazu verbunden      
  34 werden können.      
           
  35 Der kategorische Imperativ, indem er eine Verbindlichkeit in      
  36 Ansehung gewisser Handlungen aussagt, ist ein moralisch=praktisches      
           
     

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