Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 312

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
§ 44.
     
           
  02 Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der      
  03 Gewaltthätigkeit der Menschen belehrt werden und ihrer Bösartigkeit, sich,      
  04 ehe eine äußere machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu befehden,      
  05 also nicht etwa ein Factum, welches den öffentlich gesetzlichen Zwang nothwendig      
  06 macht, sondern, sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht      
  07 werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee      
  08 eines solchen (nicht=rechtlichen) Zustandes, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher      
  09 Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten      
  10 niemals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar      
  11 aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, was ihm recht und gut dünkt,      
  12 und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen; mithin das      
  13 Erste, was ihm zu beschließen obliegt, wenn er nicht allen Rechtsbegriffen      
  14 entsagen will, der Grundsatz sei: man müsse aus dem Naturzustande, in      
  15 welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen und sich mit allen      
  16 anderen (mit denen in Wechselwirkung zu gerathen er nicht vermeiden      
  17 kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange      
  18 zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für      
  19 das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt und durch hinreichende      
  20 Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Theil      
  21 wird, d. i. er solle vor allen Dingen in einen bürgerlichen Zustand treten.      
  22 Zwar durfte sein natürlicher Zustand nicht eben darum ein Zustand      
  23 der Ungerechtigkeit ( iniustus ) sein, einander nur nach dem bloßen Maße      
  24 seiner Gewalt zu begegnen; aber es war doch ein Zustand der Rechtlosigkeit      
  25 ( status iustitia vacuus ), wo, wenn das Recht streitig ( ius controversum )      
  26 war, sich kein kompetenter Richter fand, rechtskräftig den Ausspruch      
  27 zu thun, aus welchem nun in einen rechtlichen zu treten ein jeder      
  28 den Anderen mit Gewalt antreiben darf: weil, obgleich nach jedes seinen      
  29 Rechtsbegriffen etwas Äußeres durch Bemächtigung oder Vertrag erworben      
  30 werden kann, diese Erwerbung doch nur provisorisch ist, so      
  31 lange sie noch nicht die Sanction eines öffentlichen Gesetzes für sich hat,      
  32 weil sie durch keine öffentliche (distributive) Gerechtigkeit bestimmt und      
  33 durch keine dies Recht ausübende Gewalt gesichert ist.      
           
  34 Wollte man vor Eintretung in den bürgerlichen Zustand gar      
  35 keine Erwerbung, auch nicht einmal provisorisch für rechtlich erkennen,      
  36 so würde jener selbst unmöglich sein. Denn der Form nach enthalten      
           
     

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