Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 333

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 hiemit, außer der Ungemächlichkeit, noch die Eitelkeit des Thäters schmerzhaft      
  02 angegriffen und so durch Beschämung Gleiches mit Gleichem gehörig      
  03 vergolten würde. - Was heißt das aber: "Bestiehlst du ihn, so bestiehlst      
  04 du dich selbst"? Wer da stiehlt, macht aller Anderer Eigenthum      
  05 unsicher; er beraubt sich also (nach dem Recht der Wiedervergeltung) der      
  06 Sicherheit alles möglichen Eigenthums; er hat nichts und kann auch nichts      
  07 erwerben, will aber doch leben; welches nun nicht anders möglich ist, als      
  08 daß ihn Andere ernähren. Weil dieses aber der Staat nicht umsonst thun      
  09 wird, so muß er diesem seine Kräfte zu ihm beliebigen Arbeiten (Karren      
  10 oder Zuchthausarbeit) überlassen und kommt auf gewisse Zeit, oder nach      
  11 Befinden auch auf immer in den Sklavenstand. - Hat er aber gemordet,      
  12 so muß er sterben. Es giebt hier kein Surrogat zur Befriedigung der      
  13 Gerechtigkeit. Es ist keine Gleichartigkeit zwischen einem noch so      
  14 kummervollen Leben und dem Tode, also auch keine Gleichheit des Verbrechens      
  15 und der Wiedervergeltung, als durch den am Thäter gerichtlich      
  16 vollzogenen, doch von aller Mißhandlung, welche die Menschheit in der      
  17 leidenden Person zum Scheusal machen könnte, befreieten Tod. - Selbst      
  18 wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete      
  19 (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse auseinander zu      
  20 gehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängni      
  21 befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das      
  22 widerfahre, was seine Thaten werth sind, und die Blutschuld nicht auf dem      
  23 Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat: weil es als      
  24 Theilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet      
  25 werden kann.      
           
  26 Diese Gleichheit der Strafen, die allein durch die Erkenntniß des      
  27 Richters auf den Tod nach dem strengen Wiedervergeltungsrechte möglich      
  28 ist, offenbart sich daran, daß dadurch allein proportionirlich mit der      
  29 inneren Bösartigkeit der Verbrecher das Todesurtheil über alle (selbst      
  30 wenn es nicht einen Mord, sondern ein anderes nur mit dem Tode zu tilgendes      
  31 Staatsverbrechen beträfe) ausgesprochen wird. - Setzet: daß, wie in      
  32 der letzten schottischen Rebellion, da verschiedene Theilnehmer an derselben      
  33 (wie Balmerino und andere) durch ihre Empörung nichts als eine dem      
  34 Hause Stuart schuldige Pflicht auszuüben glaubten, andere dagegen      
  35 Privatabsichten hegten, von dem höchsten Gericht das Urtheil so gesprochen      
  36 worden wäre: ein jeder solle die Freiheit der Wahl zwischen dem Tode und      
  37 der Karrenstrafe haben; so sage ich: der ehrliche Mann wählt den Tod,      
           
     

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