Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 455

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Liebe betrachtet wird. - Selbst ein bloßes herzliches Wohlwollen des      
  02 Anderen ohne physische Folgen verdient den Namen einer Tugendpflicht;      
  03 welches dann den Unterschied zwischen der thätigen und blos affectionellen      
  04 Dankbarkeit begründet.      
           
  05
§ 32.
     
           
  06 Dankbarkeit ist Pflicht, d. i. nicht blos eine Klugheitsmaxime,      
  07 durch Bezeugung meiner Verbindlichkeit wegen der mir widerfahrenen      
  08 Wohlthätigkeit den Andern zu mehrerem Wohlthun zu bewegen ( gratiarum      
  09 actio est ad plus dandum invitatio ); denn dabei bediene ich mich dieser      
  10 blos als Mittel zu meinen anderweitigen Absichten; sondern sie ist unmittelbare      
  11 Nöthigung durchs moralische Gesetz, d. i. Pflicht.      
           
  12 Dankbarkeit aber muß auch noch besonders als heilige Pflicht, d. i.      
  13 als eine solche, deren Verletzung die moralische Triebfeder zum Wohlthun      
  14 in dem Grundsatze selbst vernichten kann (als skandalöses Beispiel), angesehen      
  15 werden. Denn heilig ist derjenige moralische Gegenstand, in Ansehung      
  16 dessen die Verbindlichkeit durch keinen ihr gemäßen Act völlig getilgt      
  17 werden kann (wobei der Verpflichtete immer noch verpflichtet bleibt).      
  18 Alle andere ist gemeine Pflicht. - Man kann aber durch keine Vergeltung      
  19 einer empfangenen Wohlthat über dieselbe quittiren: weil der      
  20 Empfänger den Vorzug des Verdienstes, den der Geber hat, nämlich der      
  21 Erste im Wohlwollen gewesen zu sein, diesem nie abgewinnen kann.      
  22 Aber auch ohne einen solchen Act (des Wohlthuns) ist selbst das bloße      
  23 herzliche Wohlwollen schon Grund der Verpflichtung zur Dankbarkeit.      
  24 Eine dankbare Gesinnung dieser Art wird Erkenntlichkeit genannt.      
           
  25
§ 33.
     
           
  26 Was die Extension dieser Dankbarkeit betrifft, so geht sie nicht      
  27 allein auf Zeitgenossen, sondern auch auf die Vorfahren, selbst diejenige,      
  28 die man nicht mit Gewißheit namhaft machen kann. Das ist auch die      
  29 Ursache, weswegen es für unanständig gehalten wird, die Alten, die als      
  30 unsere Lehrer angesehen werden können, nicht nach Möglichkeit wider alle      
  31 Angriffe, Beschuldigungen und Geringschätzung zu vertheidigen; wobei es      
  32 aber ein thörichter Wahn ist, ihnen um des Alterthums willen einen      
  33 Vorzug in Talenten und gutem Willen vor den Neueren, gleich als ob die      
  34 Welt in continuirlicher Abnahme ihrer ursprünglichen Vollkommenheit      
           
     

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