Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 487

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Diesen Glauben aber zugestanden und, daß Religionslehre ein      
  02 integrirender Theil der allgemeinen Pflichtenlehre sei, eingeräumt, ist      
  03 jetzt nun die Frage von der Grenzbestimmung der Wissenschaft, zu der      
  04 sie gehört: ob sie als ein Theil der Ethik (denn vom Recht der Menschen      
  05 gegen einander kann hier nicht die Rede sein) angesehen, oder ganz außerhalb      
  06 den Grenzen einer rein=philosophischen Moral liegend müsse betrachtet      
  07 werden.      
           
  08 Das Formale aller Religion, wenn man sie so erklärt: sie sei "der      
  09 Inbegriff aller Pflichten als ( instar ) göttlicher Gebote", gehört zur philosophischen      
  10 Moral, indem dadurch nur die Beziehung der Vernunft auf die      
  11 Idee von Gott, welche sie sich selber macht, ausgedrückt wird, und eine      
  12 Religionspflicht wird alsdann noch nicht zur Pflicht gegen ( erga ) Gott      
  13 als ein außer unserer Idee existirendes Wesen gemacht, indem wir hiebei      
  14 von der Existenz desselben noch abstrahiren. - Daß alle Menschenpflichten      
  15 diesem Formalen (der Beziehung derselben auf einen göttlichen, a priori      
  16 gegebenen Willen) gemäß gedacht werden sollen, davon ist der Grund      
  17 nur subjectiv=logisch. Wir können uns nämlich Verpflichtung (moralische      
  18 Nöthigung) nicht wohl anschaulich machen, ohne einen Anderen und      
  19 dessen Willen (von dem die allgemein gesetzgebende Vernunft nur der      
  20 Sprecher ist), nämlich Gott, dabei zu denken. - - Allein diese Pflicht      
  21 in Ansehung Gottes (eigentlich der Idee, welche wir uns von einem      
  22 solchen Wesen machen) ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst, d. i. nicht      
  23 objective, die Verbindlichkeit zur Leistung gewisser Dienste an einen Anderen,      
  24 sondern nur subjective zur Stärkung der moralischen Triebfeder in      
  25 unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft.      
           
  26 Was aber das Materiale der Religion, den Inbegriff der Pflichten      
  27 gegen ( erga ) Gott, d. i. den ihm zu leistenden Dienst ( ad praestandum ),      
  28 anlangt, so würde sie besondere, von der allgemein=gesetzgebenden Vernunft      
  29 allein nicht ausgehende, von uns also nicht a priori, sondern nur      
  30 empirisch erkennbare, mithin nur zur geoffenbarten Religion gehörende      
  31 Pflichten als göttliche Gebote enthalten können; die also auch das Dasein      
  32 dieses Wesens, nicht blos die Idee von demselben in praktischer Absicht,      
  33 nicht willkürlich voraussetzen, sondern als unmittelbar (oder mittelbar) in      
  34 der Erfahrung gegeben dargelegt werden könnte. Eine solche Religion      
  35 aber würde, so gegründet sie sonst auch sein möchte, doch keinen Theil der      
  36 reinen philosophischen Moral ausmachen.      
           
  37 Religion also, als Lehre der Pflichten gegen Gott, liegt jenseit      
           
     

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