Kant: AA VIII, Recensionen von J. G. Herders ... , Seite 064

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 zu fragen, als zu antworten: so soll uns an einem anderen Ort die Tradition      
  02 selbst darüber Aufschluß geben."      
           
  03 In einer unbefahrenen Wüste muß einem Denker gleich Reisenden frei      
  04 stehen, seinen Weg nach Gutdünken zu wählen; man muß abwarten, wie      
  05 es ihm gelingt, und ob er, nachdem er sein Ziel erreicht hat, wohlbehalten      
  06 wieder zu Hause, d. i. im Sitze der Vernunft, zur rechten Zeit eintreffe      
  07 und sich also auch Nachfolger versprechen könne. Um deswillen hat Recensent      
  08 über den eigenen von dem Verfasser eingeschlagenen Gedankenweg      
  09 nichts zu sagen, nur glaubt er berechtigt zu sein, einige auf diesem Wege      
  10 von ihm angefochtene Sätze in Schutz zu nehmen, weil ihm jene Freiheit,      
  11 sich seine Bahn selbst vorzuzeichnen, auch zustehen muß. Es heißt nämlich      
  12 S. 260: "Ein zwar leichter, aber böser Grundsatz wäre es zur Philosophie      
  13 der Menschengeschichte: der Mensch sei ein Thier, das einen Herrn      
  14 nöthig habe und von diesem Herren oder der Verbindung derselben das      
  15 Glück seiner Endbestimmung erwarte." Leicht mag er immer sein, darum      
  16 weil ihn die Erfahrung aller Zeiten und an allen Völkern bestätigt, aber      
  17 böse? S. 205 wird gesagt: "Gütig dachte die Vorsehung, daß sie den      
  18 Kunstendzwecken großer Gesellschaften die leichtere Glückseligkeit einzelner      
  19 Menschen vorzog und jene kostbare Staatsmaschinen, so viel sie konnte, für      
  20 die Zeit sparte." Ganz recht, aber allererst die Glückseligkeit eines Thiers,      
  21 dann die eines Kindes, eines Jünglings, endlich die eines Mannes.      
  22 In allen Epochen der Menschheit, so wie auch zu derselben Zeit in      
  23 allen Ständen findet eine Glückseligkeit statt, die gerade den Begriffen      
  24 und der Gewohnheit des Geschöpfs an die Umstände, darin es geboren      
  25 und erwachsen ist, angemessen ist; ja es ist sogar, was diesen Punkt betrifft,      
  26 nicht einmal eine Vergleichung des Grades derselben und ein      
  27 Vorzug einer Menschenclasse oder einer Generation vor der andern      
  28 anzugeben möglich. Wie, wenn aber nicht dieses Schattenbild der Glückseligkeit,      
  29 welches sich ein jeder selbst macht, sondern die dadurch ins Spiel      
  30 gesetzte immer fortgehende und wachsende Thätigkeit und Cultur, deren      
  31 größtmöglicher Grad nur das Product einer nach Begriffen des Menschenrechts      
  32 geordneten Staatsverfassung, folglich ein Werk der Menschen selbst      
  33 sein kann, der eigentliche Zweck der Vorsehung wäre? So würde nach      
  34 S. 206 "jeder einzelne Mensch das Maß seiner Glückseligkeit in sich haben",      
  35 ohne im Genusse derselben irgend einem der nachfolgenden Glieder nachzustehen;      
  36 was aber den Werth nicht ihres Zustandes, wenn sie existiren,      
  37 sondern ihrer Existenz selber, d. i. warum sie eigentlich daseien, betrifft,      
           
     

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