Kant: AA VIII, Recensionen von J. G. Herders ... , Seite 065

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 so würde sich nur hier allein eine weise Absicht im Ganzen offenbaren. Meint      
  02 der Herr Verfasser wohl: daß, wenn die glücklichen Einwohner von Otaheite,      
  03 niemals von gesittetern Nationen besucht, in ihrer ruhigen Indolenz      
  04 auch tausende von Jahrhunderten durch zu leben bestimmt wären, man      
  05 eine befriedigende Antwort auf die Frage geben könnte, warum sie denn      
  06 gar existiren und ob es nicht eben so gut gewesen wäre, daß diese Insel      
  07 mit glücklichen Schafen und Rindern, als mit im bloßen Genusse glücklichen      
  08 Menschen besetzt gewesen wäre? Jener Grundsatz ist also nicht so      
  09 böse, als der Herr Verfasser meint. - Es mag ihn wohl ein böser Mann      
  10 gesagt haben. - Ein zweiter in Schutz zu nehmender Satz wäre dieser.      
  11 S. 212 heißt es: "Wenn jemand sagte: daß nicht der einzelne Mensch,      
  12 sondern das Geschlecht erzogen werde, so spräche er für mich unverständlich,      
  13 da Geschlecht und Gattung nur allgemeine Begriffe sind, außer      
  14 in so fern sie in einzelnen Wesen existiren. - Als wenn ich von der Thierheit,      
  15 der Steinheit, der Metallheit im Allgemeinen spräche und sie mit den      
  16 herrlichsten, aber in einzelnen Individuen einander widersprechenden      
  17 Attributen auszierte! - Auf diesem Wege der averroischen Philosophie      
  18 soll unsere Philosophie der Geschichte nicht wandeln". Freilich, wer da      
  19 sagte: Kein einziges Pferd hat Hörner, aber die Pferdegattung ist doch      
  20 gehörnt, der würde eine Platte Ungereimtheit sagen. Denn Gattung bedeutet      
  21 alsdann nichts weiter, als das Merkmal, worin gerade alle Individuen      
  22 unter einander übereinstimmen müssen. Wenn aber Menschengattung      
  23 das Ganze einer ins Unendliche (unbestimmbare) gehenden Reihe      
  24 von Zeugungen bedeutet (wie dieser Sinn denn ganz gewöhnlich ist), und      
  25 es wird angenommen, daß diese Reihe der Linie ihrer Bestimmung, die      
  26 ihr zur Seite läuft, sich unaufhörlich nähere, so ist es kein Widerspruch zu      
  27 sagen: daß sie in allen ihren Theilen dieser asymptotisch sei und doch im      
  28 Ganzen mit ihr zusammen komme, mit anderen Worten, daß kein Glied      
  29 aller Zeugungen des Menschengeschlechts, sondern nur die Gattung ihre      
  30 Bestimmung völlig erreiche. Der Mathematiker kann hierüber Erläuterung      
  31 geben; der Philosoph würde sagen: die Bestimmung des menschlichen      
  32 Geschlechts im Ganzen ist unaufhörliches Fortschreiten, und die      
  33 Vollendung derselben ist eine bloße, aber in aller Absicht sehr nützliche      
  34 Idee von dem Ziele, worauf wir der Absicht der Vorsehung gemäß unsere      
  35 Bestrebungen zu richten haben. Doch diese Irrung in der angeführten      
  36 polemischen Stelle ist nur eine Kleinigkeit. Wichtiger ist der Schluß derselben:      
  37 "Auf diesem Wege der averroischen Philosophie (heißt es) soll      
           
     

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