Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 348

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 der Erklärungsart durch Annehmung wirklicher Zwecke der Natur für      
  02 unsere ästhetische Urtheilskraft ein großes Gewicht.      
           
  03 Dagegen widersetzt sich dieser Annahme nicht allein die Vernunft      
  04 durch ihre Maximen, allerwärts die unnöthige Vervielfältigung der Principien      
  05 nach aller Möglichkeit zu verhüten; sondern die Natur zeigt in ihren      
  06 freien Bildungen überall so viel mechanischen Hang zu Erzeugung von      
  07 Formen, die für den ästhetischen Gebrauch unserer Urtheilskraft gleichsam      
  08 gemacht zu sein scheinen, ohne den geringsten Grund zur Vermuthung an      
  09 die Hand zu geben, daß es dazu noch etwas mehr als ihres Mechanisms,      
  10 bloß als Natur, bedürfe, wornach sie auch ohne alle ihnen zum Grunde      
  11 liegende Idee für unsere Beurtheilung zweckmäßig sein können. Ich verstehe      
  12 aber unter einer freien Bildung der Natur diejenige, wodurch      
  13 aus einem flüssigen in Ruhe durch Verflüchtigung oder Absonderung      
  14 eines Theils desselben (bisweilen bloß der Wärmmaterie) das übrige bei      
  15 dem Festwerden eine bestimmte Gestalt oder Gewebe (Figur oder Textur)      
  16 annimmt, die nach der specifischen Verschiedenheit der Materien verschieden,      
  17 in eben derselben aber genau dieselbe ist. Hiezu aber wird, was man      
  18 unter einer wahren Flüssigkeit jederzeit versteht, nämlich daß die Materie      
  19 in ihr völlig aufgelöset, d. i. nicht als ein bloßes Gemenge fester und darin      
  20 bloß schwebender Theile anzusehen sei, vorausgesetzt.      
           
  21 Die Bildung geschieht alsdann durch Anschießen, d. i. durch ein      
  22 plötzliches Festwerden, nicht durch einen allmähligen Übergang aus dem      
  23 flüssigen in den festen Zustand, sondern gleichsam durch einen Sprung,      
  24 welcher Übergang auch das Krystallisiren genannt wird. Das gemeinste      
  25 Beispiel von dieser Art Bildung ist das gefrierende Wasser, in welchem      
  26 sich zuerst gerade Eisstrählchen erzeugen, die in Winkeln von 60 Grad sich      
  27 zusammenfügen, indeß sich andere an jedem Punkt derselben eben so ansetzen,      
  28 bis alles zu Eis geworden ist: so daß während dieser Zeit das Wasser      
  29 zwischen den Eisstrählchen nicht allmählig zäher wird, sondern so vollkommen      
  30 flüssig ist, als es bei weit größerer Wärme sein würde, und doch      
  31 die völlige Eiskälte hat. Die sich absondernde Materie, die im Augenblicke      
  32 des Festwerdens plötzlich entwischt, ist ein ansehnliches Quantum von      
  33 Wärmestoff, dessen Abgang, da es bloß zum Flüssigsein erfordert ward,      
  34 dieses nunmehrige Eis nicht im mindesten kälter, als das kurz vorher in      
  35 ihm flüssige Wasser zurückläßt.      
           
  36 Viele Salze, imgleichen Steine, die eine krystallinische Figur haben,      
  37 werden eben so von einer im Wasser, wer weiß durch was für Vermittelung      
           
     

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